Der große Bio-Schmaeh
graue Lebensbühnen aus Beton und einen durch und durch materiell orientierten Alltag beschert hat, ist die Nahrungsaufnahme vielleicht der letzte Daseinsbereich, in dem wir jeden Tag und bedingungslos unserer menschlichen Natur begegnen können und sogar müssen. Wir nehmen die Früchte der Erde in uns auf. Wir sind abhängig von ihnen und sie werden Teil von uns. Doch wenn wir essen, nehmen wir nicht bloß Proteine, Kohlenhydrate, Fette und andere chemische Verbindungen auf. Wir treten auf mannigfaltige Weise mit unserer Nahrung in Kontakt: über den Geruchssinn, den Geschmacks- und den Tastsinn, über visuelle Wahrnehmung und unser ästhetisches Empfinden. Schließlich auch auf der psychologischen Ebene, denn die Nahrung, die wir aufnehmen, löst Assoziationen in uns aus. Wenn wir eine Tomate in Scheiben schneiden und genüsslich verzehren, sehen wir vielleicht in unserer Fantasie das Tomatenfeld vor uns, das in der Sonne glänzt. Über die Erdenfrucht nehmen wir auch Bestandteile der Erde selbst in uns auf. Und wir nehmen das Sonnenlicht auf, das die Pflanze in Form von Sonnenenergie in der Frucht gespeichert hat. Die Bedeutung der Nahrungsaufnahme und ihr Symbolcharakter für unsere untrennbare Verbindung mit der Natur, sind kaum zu überschätzen. Dies ist vermutlich einer der Gründe, weshalb wir uns nach naturnaher, gesunder Landwirtschaft sehnen.
Viele Menschen haben die industrielle Herstellung ihrer Nahrungsmittel satt. Sie wollen keine (Bio-)Designertomaten aus riesigen Gewächshausanlagen, keine (Bio-)Superleistungshybridhennen, die von Biotech-Konzernen auf maximalen Fleischansatz oder turbomäßige Legeleistung selektiert worden sind. Die Sehnsucht nach Natur und nach ursprünglicher Landwirtschaft, wird von der Werbung aufgegriffen und angesprochen. Jeden Tag schleicht sich die Werbung zwischen uns und die Welt und erzählt die fiktive Geschichte einer Landwirtschaft, die genau so ist, wie wir sie uns wünschen. Das Bio TM -Marketing bedient sich unserer Gefühle, manipuliert sie und nutzt sie für Konzernzwecke. Es verbindet unsere tiefsten menschlichen Bedürfnisse sowie unseren innigen Wunsch nach natürlicher, ökologisch produzierter Nahrung mit kommerziellen Markenprodukten. Die Injektionsnadel wird uns dabei so unterschwellig verabreicht, dass wir es gar nicht bemerken. Es ist verständlich, dass wir lieber nicht allzu tief nachforschen, inwieweit wir den Werbeversprechen der Konzerne trauen können, denn ihre Kommerzprodukte sind unsere einzige Chance, im Konsumkapitalismus und in den Betonschluchten der Großstädte an ein Stück plastikverpackte Natur zu gelangen, die uns inzwischen schon auf Autobahnen von den Bio-Werbeplakaten entgegenwinkt. Unser Bedürfnis nach dem Natürlichen macht uns reif für die große Manipulation. Wir können von Markenlogos in Bewegung gesetzt werden, ohne dass wir es merken. Wenn wir in konventionellen Supermärkten oder beim Discounter degenerierte Bio-Hybridtomaten aus spanischen oder italienischen Gewächshäusern kaufen, dann kaufen wir die Marke, nicht das Produkt. Und wir haben ein gutes Gefühl dabei. Vielleicht würde dieses gute Gefühl der Abneigung weichen, wenn wir sehen würden, unter welchen industriellen Bedingungen diese Tomaten angebaut wurden und wie afrikanische Saisonarbeiter, über deren Arbeitslohn wir nichts wissen, sich dafür abrackern mussten. Möglicherweise handelt es sich sogar um eine Tomatensorte des international in die Schlagzeilen geratenen Saatgutriesen Monsanto. Aber es kommt gar nicht so weit, dass wir dies alles erfahren. Das angenehme Gefühl, das Richtige, das Nachhaltige, das »Gute« gekauft zu haben, wurde durch die Werbung bereits erfolgreich in unsere Köpfe verpflanzt.
Das Gehirn als eigentlicher Adressat der Werbung
Um das Buch zu schreiben, das Sie gerade in Ihren Händen halten, wälzte ich tage- und nächtelang die Standardlehrbücher der Medienwissenschaft und Werbepsychologie. Ich wollte die Theorien verstehen, die hinter dem Verschleierungsmarketing der Lebensmittelkonzerne stehen. Als Biologe und Agrarwissenschaftler bewegte ich mich zunächst etwas unbeholfen auf diesem fremden Terrain, aber schon bald fand ich mich in den ungewohnten Disziplinen zurecht. Ich lernte, dass wir in der Werbung – ganz ähnlich wie in der fiktionalen Literatur – sogenannte »Narrative« finden können. Ein Narrativ ist nichts anderes als das Schema oder der Typus einer (erfundenen) Erzählung. Die entführte und meistens
Weitere Kostenlose Bücher