Der große Bio-Schmaeh
änderte sich etwas. Es gab viele große Bauvorhaben in der Stadt und unser Greißler am Eck sperrte zu, ein neuer Besitzer versuchte sein Glück und scheiterte binnen weniger Monate. Dann kam, nach einer kurzen Pause, in der das Lokal leer stand, ein dritter. Der Laden lief nun ein paar Jahre, in denen über dem Eingang ein großes Schild mit der Aufschrift »Adeg« prangte. Diese Handelskette war schon gegen Ende der 1920er-Jahre als Einkaufsgenossenschaft selbstständiger Kaufleute in Österreich gegründet worden. Inzwischen wurde Adeg allerdings vom Rewe-Konzern geschluckt, ist also nun die »kleine Schwester« von Billa, Merkur, Penny, AGM und Bipa. Der neue Kaufladen am Eck hielt etwa bis in die Mitte der Neunziger durch, dann machte er endgültig dicht und niemand versuchte es seither dort mit einer Neueröffnung. Stattdessen nahm eine Supermarktkette in unserer Wohngegend eine weitere Filiale in Betrieb und ein zweiter Greißler schloss seine Pforten für immer, ebenso wie der Besitzer eines kleinen Gemüseladens. Diesem Beispiel folgten in den Jahren darauf eine angestammte Bäckerei, ein Fleischermeister und ein Feinkostladen. Sie alle gehören der Vergangenheit an. Dafür aber wuchs die neue Supermarktfiliale, indem man ausbaute und die Verkaufsfläche deutlich vergrößerte. Ebenfalls im Laufe der 1990er befand ich mich als Teenager in einer Handwerkslehre zum Buchbinder. Meinen Lehrabschluss konnte ich gerade noch machen, bevor unsere traditionsreiche Buchbinderei schließen musste. Bücher wurden schon längst automatisiert in industriellen Buchstraßen hergestellt, in denen man keine Buchbinderinnen und Buchbinder mehr einstellte, sondern sogenannte Maschinenführer. Kleine Handwerksbetriebe hatten es unter dem Druck der Großen zusehends schwerer. Mit ihnen wurde auch ihr Wissen und Können rund um alte Buchbindetechniken immer seltener. Meine Qualifikation als Handbuchbinder hätte mich in keine allzu rosige Zukunft geführt. Doch die Entscheidung für ein naturwissenschaftliches Studium war ohnedies schon gefällt. Mein Interesse an natürlichen Kreisläufen und ökologischer Landwirtschaft begann in dieser Zeit rapide zu wachsen und außerdem stieß ich damals auf einen alten Bio-Laden, der später zu meinem Stammgeschäft wurde.
Aufwachen
Im Jahr 1993, als ich dreizehn war, kam mir ein Buch über die Fleischindustrie in die Hände. 8 Manfred Karremann, ein mehrfach ausgezeichneter Journalist, zeigte auf authentische und eindrucksvolle Weise, dass die Wirtschaftstrends der Industrialisierung und der Zentralisierung auch vor der landwirtschaftlichen Tierhaltung nicht haltgemacht hatten. Die Folge waren Intensivtierhaltung, Massentiertransporte und das Ende des Bauerntums. An dessen Stelle trat eine neue Vertragslandwirtschaft unter der Schirmherrschaft expandierender Handelskonzerne. Die schrecklichen Impressionen aus der Massenproduktion von Tieren trafen mich damaligen Dreikäsehoch hart. Weshalb hielt man diese Zustände von uns Konsumentinnen und Konsumenten fern? Wieso wusste niemand, wie unser Fleisch produziert wurde? Und weshalb hingen über den Fleischtheken der Supermärkte Bilder von Rindern auf grünen, saftigen Wiesen und glücklichen Hühnern am Bauernhof statt Abbildungen aus der Realität?
Auf Eierverpackungen hätte man Fabriken zeigen sollen, in denen Küken auf Fließbändern durch die Hallen jagen und männliche Jungtiere – automatisch und ganz nach Roboterart – zu Mus geschnetzelt werden, weil sie keine Eier legen können. Man hätte anstatt der werbewirksamen Bauernhofidylle besser Fotos von Tieren präsentiert, die im rasenden Akkord am Fließband dahingeschlachtet werden. Diese bitteren Wahrheiten entfachten nachhaltig mein Interesse an der Herkunft unserer Lebensmittel.
Es gab noch viel zu lernen und zu erfahren. Die nächsten Jahre verliefen vorerst ohne große Fortschritte. Ich war zu sehr mit der anstrengenden Aufgabe beschäftigt, ein Teenager zu sein, als dass ich mich ausführlich mit den Hintergründen der Lebensmittelwelt hätte beschäftigen können. Erst mit achtzehn, als ich an der Kippe zum Erwachsenwerden stand, erwachte mein Wissensdrang aufs Neue. Ich wusste nicht, dass ich bald alle meine Vorstellungen, die ich von Landwirtschaft und Lebensmittelherstellung hatte, endgültig über Bord würde werfen müssen. Ich las mehrere Bücher über Ökologie und Agrarkunde, über die Probleme des Bauernstandes und den Druck, der auf diesem seitens des Handels
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