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Der große deutsche Märchenschatz

Der große deutsche Märchenschatz

Titel: Der große deutsche Märchenschatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anaconda
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entgegnete Willibald; dann umklammerte er mit beiden Armen furchtlos die höchste Felsspitze und wollte sich vorsichtig zur zweiten hinabgleiten lassen; aber da war’s ihm, als ziehe ihn eine unsichtbare Gewalt nach oben und halte ihn an allen Gliedern fest. Lange mühte er sich vergebens, frei zu werden, dann gab er es als nutzlos auf und setzte sich ruhig nieder.
    Indessen war es ganz dunkel geworden. »Die Zwerge müssen unsichtbare Netze oder Stricke um mich gelegt haben«, rief er hinunter. »Wenn ich fort will, fühle ich mich an Händen und Füßen gefesselt und kann mich nicht losreißen. Geht heim zu meinem Vater und sagt ihm, ich wolle hier übernachten; ich fürchte mich nicht vor den Zwergen. Morgen früh werden sie mich wohl wieder freigeben.« Die Kameraden wollten ihn erst nicht verlassen, endlich aber gaben sie seinen wiederholten Bitten nach, wünschten ihm eine gute Nacht und gingen weiter.
    Der Förster erschrak nicht wenig, als er hörte, in welcher Gefahr sein tollkühner Sohn sich befinde. Er warf die Flinte über den Rücken und lief, so schnell er konnte, den dunklen Waldpfad entlang zum Heinzelstein. Da stand im Mondenschein oben auf der Spitze des Felsens der kleine König Rotifax, seinen Sohn aber konnte der arme Vater nirgendwo erblicken. »Du hast mein Kind ermordet, wie schon so viele unschuldige Opfer vor ihm«, rief der Förster zornig aus, legte die Flinte an und zielte hinauf nach dem Zwergenkönig. Im selben Augenblick aber umringte ihn eine zahllose Schar kleiner schwarzer Erdmännlein; sie schlugen ihn mit Weidenruten auf die Finger und neckten ihn da und dort mit langen Tannenbüscheln, dass er nicht ordentlich zielen konnte, und plötzlich vernahm er seines Sohnes Stimme: »Vater, tut dem kleinen König Rotifax kein Leides an, ich bin hier oben ganz wohl und munter. Verzeiht mir den Kummer, den ich Euch bereite, aber reizt die Zwerge nicht. Dann erlauben sie auch gewiss, dass ich morgen ungefährdet wieder zu Euch hinabsteige. Und jetzt geht, bitte, ruhig nach Haus, denn während der Nacht könnt Ihr mir doch nicht helfen.«
    Das schien dem armen Förster, welcher nur zu glücklich war, seinen Sohn noch am Leben zu wissen, auch das klügste zu sein; er bat Willibald dringend, ja recht vorsichtig zu sein, und versprach, am folgenden Tage mit Sonnenaufgang zurückzukehren.
    Kaum war er fort, da kamen die kleinen Erdmännlein zum Fuße des Felsens. Alle hatten Bergmannskleidung; jeder trug ein Grubenlicht in der Hand und auf dem Rücken eine kleine Leiter; diese setzten sie nun immer eine auf die andere, und ohne besondere Mühe hielten sie so fest zusammen, als seien sie ineinandergeschmiedet. Bald war die Riesenleiter, welche bis zur Spitze des Heinzelsteines hinaufreichte, fertig; auf jede zehnte Stufe stellte sich ein Zwerg mit seinem Laternchen und leuchtete. Das Männlein auf der obersten Sprosse aber rief den Försterssohn und sagte: »So, nun setze dich auf meine Schultern, halt dich fest an mich angeklammert und sei nicht bange.« Willibald gehorchte, obwohl er fürchtete, den kleinen Mann mit seinem Gewicht zu erdrücken. Der aber schien die schwere Last gar nicht zu fühlen und trug ihn von der schwindelnden Höhe so sicher hinab, als gehe er auf ebener Erde. Als Willibald wohlbehalten unten stand und den Zwergen danken wollte, waren sie samt Leiter und Lichtern verschwunden. Statt ihrer aber trat der ehrwürdige König Rotifax selber, mit der Zwergenkrone auf dem Haupte, vor ihn hin und sprach: »Du hast meine Macht nun kennengelernt und wirst so bald nicht wieder Lust verspüren, dich auf dem Heinzelsteine umzuschauen. Es war sehr leichtsinnig von dir, auf die Warnung deiner Gefährten nicht zu achten, doch dafür hast du wohl Angst genug dort oben ausgestanden, als ich dich gefesselt hielt. Aber weil du ein gutes Herz hast und deinen Vater batest, mein Leben zu schonen, so hast du auch von mir nichts zu fürchten. Ich will dich jetzt in das Innere meines Palastes führen, da sollst du dich mit Speis und Trank erquicken und dann ausruhen. Morgen früh magst du bei Tagesanbruch ins Försterhaus zurückkehren. Nun komm und folge mir.«
    Bei diesen Worten berührte er den Felsen mit seinem Szepter; ein Tor sprang auf. Der Zwerg schritt voran in den hell erleuchteten Berg hinein; Willibald besann sich nicht lange und ging ihm nach. Bald kamen

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