Der große deutsche Märchenschatz
Zwergenkönig strich seinen langen, fast bis zur Erde hinabreichenden Bart, sah seinem erstaunten Begleiter ein Weilchen lächelnd zu, dann sagte er: »Nun siehst du auch, dass wir uns nicht umsonst plagen und schaffen; greif nur zu und nimm, was dir gefällt.« Er nötigte den bescheidenen Försterssohn so lange, bis dessen Taschen gefüllt waren. Zuletzt öffnete er ein silberbeschlagenes Kästchen von Sandelholz, nahm einen kleinen, blitzenden, dreieckigen Karfunkelstein, welcher an einem goldenen Kettchen hing, heraus und gab ihn Willibald mit der Bitte, ihn doch als Talisman allzeit am Halse zu tragen. Willibald konnte kaum Worte finden, seinem groÃmütigen Freunde für all die reichen Geschenke zu danken. Der sprach: »Jetzt istâs Zeit, dass du dich ausruhst, die Mitternachtsstunde ist nicht mehr fern. Du hast heute einen anstrengenden Tag gehabt und musst sicherlich müde sein.«
Damit schob er seinen Gast zur Schatzkammer hinaus, schloss die Türe und ging voran, Willibald den Weg zu seinem Schlafgemach zeigend. Das war eine reizende kleine Felsengrotte, in welcher eine bläuliche Ampel ein sanftes Licht verbreitete. »Schlaf wohl«, sprach Rotifax und drückte freundlich Willibalds Hand. »Morgen wecke ich dich beizeiten und führe dich zu deinem Vater zurück.« Der Knabe küsste ihm die kleine braune Hand und dankte ihm tief gerührt für all seine Freundschaft und Güte. Kaum hatte sich der Zwergenkönig entfernt, da begann Willibald groÃe Müdigkeit zu empfinden. Er legte sich sogleich auf das weiche Ruhebett nieder, ohne vorher seine Kleider auszuziehen. Dann dachte er zum ersten Mal mit Ruhe nach über die wunderbaren Ereignisse der letzten Stunden; es wollte ihm gar nicht recht in den Sinn, dass er am Morgen desselben Tages noch zur Schule gegangen war und dann mit seinen Kameraden in den Wäldern Beeren gesucht hatte; kam es ihm doch vor, als seien seitdem Wochen und Monde verflossen. Es währte aber nicht lange, da war er fest eingeschlafen, und seine Gedanken gestalteten sich zu allerlei bunten Traumbildern, in denen die Zwerge natürlich eine Hauptrolle spielten.
Als er wieder erwachte und die Augen aufschlug, lag er im weichen Moose am FuÃe des Heinzelsteines. Der frische Morgenwind spielte in seinem lockigen Haar, und statt des matten Scheines der blauen Ampel begrüÃten ihn die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne. Wie er jetzt verwundert um sich schaute, ob denn nirgendwo eine Spur von den Zwergen und ihrem kleinen König zu entdecken sei, stieà er plötzlich einen lauten Freudenschrei aus, denn vor ihm standen nicht die Zwerge, sondern seine Kameraden und der geliebte Vater. Im Nu war er auf den Beinen, und der Vater schloss den glücklich wiedererhaltenen Sohn in seine Arme.
Willibald hätte fast glauben mögen, dass sein Besuch bei den Zwergen nur ein Traum der Nacht gewesen sei, so sonderbar kam ihm jetzt alles vor, was er erlebt hatte. Als er aber nach seinen Taschen fühlte, da waren sie richtig bis oben an voll des puren Goldes aus der Zwerge Schatzkammer, und an seinem Halse hing der Talisman des guten Rotifax.
Alle kehrten fröhlichen Herzens heim, und immer aufs Neue musste Willibald seine Erlebnisse auf dem Heinzelstein erzählen. Dabei konnte er nie genug die Güte des kleinen Zwergenvolkes und die Schönheit und den Reichtum seines unterirdischen Reiches preisen. Wie er dasselbe aber wieder verlassen und wie es kam, dass er schlieÃlich statt in dem kleinen felsigen Schlafgemach am FuÃe des Heinzelsteines erwachte, das hat er nie erfahren. Jedenfalls haben ihn wohl die Zwerge, während er in tiefem Schlummer lag, ganz vorsichtig hinausgetragen.
Als Willibald zum ersten Mal wieder in die Schule kam, wurde er mit groÃem Jubel empfangen, und die Freude wurde bald noch gröÃer, denn Willibald machte von seinem reichen Schatze jedem seiner Schulkameraden ein hübsches Geschenk.
Mit groÃem Eifer versuchte er stets durch Bitten und Vorstellungen, mutwillige Burschen davon abzubringen, an der Zwergenburg etwas zu zerstören. Auch in späteren Jahren benutzte er oft viel von seinem Golde, um die Leute vom Besteigen des Heinzelsteines und vom SchieÃen nach demselben zurückzuhalten. Von den Zwergen und ihrem kleinen König hat er nichts mehr gehört noch gesehen, und auch er selber ist nie mehr zur Spitze des Heinzelsteines hinaufgeklettert.
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