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Der große deutsche Märchenschatz

Der große deutsche Märchenschatz

Titel: Der große deutsche Märchenschatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anaconda
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entdeckte man erst zuletzt, weil er sich besonders gut verkrochen hatte, und ehe man auf ihn zielen konnte, wälzte er sich jämmerlich heulend vor den König hin. Dieser stieg vom Pferde herab und besah sich den Schneider hinten und vorn, konnte aber nicht begreifen, was dies für ein seltsames Tier sei; er habe in der Schule niemals von dieser Art gehört. Da es einen Höcker habe, könnte es ein Dromedar sein; im Übrigen hingegen sei es einem Wolfe nicht unähnlich. Der Schneider aber richtete sich zitternd auf und sagte: »Um Vergebung, ich bin eigentlich ein Schneidergeselle und nur aus Versehen unter die Wölfe gekommen.« Da fing alles an zu lachen, und ein Jäger schnitt ihn aus dem Pelze heraus. Auch musste ihm ein Pferd gegeben werden, damit er neben dem Könige reiten und seine Geschichte erzählen konnte. »Schneider«, sagte hierauf der König sehr gnädig, »Ihr habt mir vielen Spaß gemacht, und wenn Ihr wollt, so könnt Ihr bei mir bleiben.« Das gefiel unserem Schneiderlein so, dass er gleich mit auf das Schloss ritt, und von nun an lebte er bei Hofe als des Königs Hof- und Leibschneider herrlich und in Freuden.
    Der alte Wolf aber, welcher glücklich mit dem Leben davongekommen war, hatte eine schreckliche Wut auf alle Menschen gefasst, insbesondere auf den Schneider, welcher am Tode seiner Frau und seiner Kinder schuld sei, und er beschloss, sich zu rächen. So lag er denn immerfort auf der Lauer, und der Mensch, welcher ihm vor die Augen kam, war ein Kind des Todes. Das ganze Land war voll Jammer und Wehklagen, denn es verging fast kein Tag, wo nicht wenigstens einer in den Klauen des erbosten Wolfes ein jämmerliches Ende fand. Der Wolf aber sagte: »Noch nicht genug; alle müssen sie daran, und dem Schneider soll es am schlimmsten ergehen, der mir Frau und Kinder zu Tode gebracht, weil er sein Schwatzmaul nicht halten konnte.« Darauf ging er nach dem Schlosse hin, wo der Schneider eben zum Fenster heraussah und eine Pfeife Tabak rauchte. »Schneider«, sagte der Wolf, »du musst sterben, eher ruhe ich nicht.« Da fasste diesen die Angst, und er berichtete dem Könige, was der Wolf ihm gedroht. »Wartet, Schneider«, antwortete dieser, »jetzt ist es die höchste Zeit, dass wir diesen Wegelagerer fangen, und sollte es mich meine einzige Tochter kosten. Er hat schon keinen Respekt vor einem königlichen Hof- und Leibschneider mehr; wo soll das hinaus? Und meine Untertanen frisst er mir auch alle weg, was ich nicht zulassen kann, wie Ihr einsehen werdet; denn wenn ich keine Untertanen mehr habe, so kann ich nicht mehr König sein. Aber lebendig müssen wir ihn fangen; er darf keines ehrlichen Todes sterben, er muss hängen, und wir wollen dabei zusehen.« Sprach’s und ließ im ganzen Lande ausrufen, wer den Wolf lebendig brächte, sollte sein Eidam werden. Aber als die Herolde zurückgekommen waren, blieb alles wie zuvor, denn niemand getraute sich, das Wagestück zu vollbringen.
    Nun hatte sich der Schneider lange Zeit nicht das Herz fassen können, aus dem Schlosse zu gehen, aus Furcht vor dem Untier. Endlich aber konnte er das Stillsitzen nicht mehr aushalten und ging an einem hellen Sommertage in den Garten. Da, mit einem Male sprang der Wolf hinter einem Baume hervor, erwischte den Schneider beim Rockschoß und zerrte ihn, so sehr er auch zappelte und schrie, vorwärts bis in den Wald hinein. Hier drehte sich der Wolf um und sah den Schneider, der wie Espenlaub zitterte und sich einmal über das andre den Angstschweiß abtrocknete, grimmig an. »Schurke von einem Schneider«, sagte er, »du hast mich ins Unglück gebracht, dafür musst du jetzt sterben.« Da klapperte der Schneider mit den Zähnen und sagte in der Stille alle Stoßgebetlein her, die er wusste. »Hast du noch etwas zu sagen, so sprich, aber mach es kurz«, fuhr der Wolf fort. Der Schneider gedachte sich aufs Unterhandeln zu legen und sprach: »Ach, wenn Ihr mich laufen lassen wolltet, so würde ich den König vermögen, Euch alle Tage so viele Schafe fressen zu lassen, als Ihr Lust hättet.« Aber der Wolf wies ihm die Zähne und sagte: »Nein, du musst sterben.« – »Wenn Ihr mich laufen lasst, so sollt Ihr ein großer Herr im Reiche werden und eine güldene Gnadenkette und einen Orden bekommen.« – »Nein«, antwortete der Wolf, »sondern du musst

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