Der große deutsche Märchenschatz
welche der junge Edelmann und die Prinzessin zusammen bekamen, sondern auch alle anderen Leute. Die kleinen Prinzessinnen lehrte sie lesen, beten und Puppenkleider machen; den Prinzen aber besah sie die Zensuren. Wer eine gute Zensur hatte, wurde sehr gelobt und bekam etwas geschenkt; hatte aber einmal einer eine schlechte Zensur, dann gab sie ihm einen Katzenkopf und sprach: »Sage einmal, sauberer Prinz, was du dir eigentlich vorstellst? Was willst du später einmal werden? Heraus mit der Sprache! Nun, wirdâs bald?«
Und wenn er dann schnuckste und sagte: »Kö-Kö-Kö-König!«, lachte sie und fragte: »König! Wohl König Midas? König Midas Hochgeboren mit zwei langen Eselsohren!« Dann schämte sich der, welcher die schlechte Zensur bekommen hatte, gewaltig.
Und auch diese zweite Prinzessin wurde steinalt, obwohl ihr Herz einen Sprung hatte. Wenn sich jemand darüber wunderte, sagte sie regelmäÃig: »Was in der Jugend einen Sprung kriegt und geht nicht gleich entzwei, das hält nachher oft gerade noch recht lange.«
Und das ist auch wahr. Denn meine Mutter hat auch so ein altes Sahnetöpfchen, weiÃ, mit kleinen bunten BlumensträuÃchen besät, das hat einen Sprung, solange ich denken kann, und hält immer noch; und seit es meine Mutter hat, sind schon so viele neue Sahnetöpfchen gekauft und immer wieder zerbrochen worden, dass man sie gar nicht zählen kann.
Wie sich der Christoph und
das Bärbel immer aneinander
vorbeigewünscht haben
Das mag nun schon geraume Zeit her sein, dass einmal der liebe Gott â wie er es oft zu tun pflegte â sagte: »Du, Gabriel, mach einmal die Luke auf und guck runter! Ich glaube, es weint was!« Der Gabriel tat, wie ihm der liebe Gott befohlen, hielt sich die Hand vor die Augen, weilâs blendete, sah überall umher und sagte endlich: »Da unten ist eine lange grüne Wiese; an dem einen Ende sitzt das Bärbel und hütet die Gänse und am andern der Christoph und hütet die Schweine, und weinen tun sie alle beide, dass einem das Herz im Leibe wehtut.« â »So?«, sagte der liebe Gott; »geh weg, Langer, damit ich selbst zusehen kann.« Dass der Engel Gabriel sehr lang ist, weià ja jeder.
Wie er nun selbst zugesehen hat, fand er es geradeso, wie es der Engel Gabriel gesagt.
Dass aber der Christoph und das Bärbel beide so kläglich weinten, hat sich so zugetragen: Der Christoph und das Bärbel hatten sich beide sehr lieb; denn eins hütete die Gänse, das andere die Schweine, und sie passten also gut zusammen, weil nämlich der Stand kein Hindernis machte. Sie nahmen sich denn vor, sie wollten sich heiraten, und meinten, dazu wärâs gerade genug, dass sie sich so lieb hätten. Aber die Herrschaft war anderer Meinung. So mussten sie sich denn mit dem Brautstande zufriedengeben. Weil aber Ordnung zu allen Dingen nützt und das Küssen bei Brautleuten eine gar wichtige Sache ist, waren sie übereingekommen, dass sieben Küsse morgens und sieben Küsse abends eine gute Zahl wären.
Eine Zeit lang ist es denn auch ganz gut gegangen, und immer waren zur rechten Zeit die sieben richtig voll. Am Morgen aber des Tages, wo diese Geschichte sich zugetragen hat, eben da es zum siebenten Kusse kommen sollte, waren dem Bärbel seine Lieblingsgans und dem Christoph sein Lieblingsferkel wegen des Frühstücks uneinig geworden, also, dass sie sich gar hart anlieÃen und beinahe schon zu Tätlichkeiten übergingen. Da mussten sie es, um den Streit zu schlichten, bei der falschen Zahl lassen. Wie nun beide nachher so einsam und weit voneinander am Wiesenrande saÃen, fiel ihnen ein, dass es doch sehr schlimm sei, und fingen an zu weinen, und weinten immer noch, als der liebe Gott selbst zusah.
Der liebe Gott meinte anfangs, ihr Leid würde sich mit der Zeit wohl von selbst geben; als aber das Weinen immer ärger wurde und dem Christoph sein Lieblingsferkel und dem Bärbel seine Lieblingsgans auch schon begannen schier traurig zu werden und ganz sauertöpfische Gesichter zu machen, sprach er: »Ich will ihnen helfen! Was sie sich am heutigen Tage nur immer wünschen mögen, soll in Erfüllung gehen.«
Die zwei hatten aber nur einen Gedanken; denn wie so eins nach dem andern schaute und konnten sich doch nicht sehen, denn die Wiese war lang und in der Mitte ein Busch, dachte der Christoph: Wenn ich doch
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