Der große deutsche Märchenschatz
Entenkönig antwortete: »Der See ist für dich zu tief. Lass mich für den verlorenen Schlüssel sorgen!« Und er befahl allen Enten, unterzutauchen und den Schlüssel zu suchen. Und sie tauchten unter, und gleich brachte eine den verlorenen goldenen Schlüssel in ihrem Schnabel herzu, und der Entenkönig überreichte ihn dem Königssohn und sprach: »Nimm ihn hin und danke nicht! Du hast noch mehr um uns verdient als diesen kleinen Gefallen.«
Er eilte sich aber und brachte den Schlüssel dem eisgrauen Männlein. Und kaum hatte es den Schlüssel in Händen, da bekam es seine Sprache wieder und dankte dem Königssohne mit Freudentränen und sprach: »Schon zweitausend Jahre muss ich hier lebendig, aber stumm sitzen in diesem Schlosse und auf Erlösung harren. Nun hast du, glücklicher Fremdling, nur noch ein Geschäft, aber das schwerste: Dann ist dein Glück gegründet.« Da fragte der jüngste Königssohn, was das wäre. »Drei Töchter habe ich«, sprach das graue Männlein. »Ich bin der König von diesem verzauberten Schloss und Lande. Diese drei Töchter sind mir von ihrer eigenen Mutter, die eine böse Fee war, verzaubert und liegen nun seit zweitausend Jahren in einem totenähnlichen Schlafe. Die älteste, Rubina genannt, verzauberte sie durch ein Stück Zucker, die zweite, Briza genannt, durch einen Sirup, aber meine jüngste Tochter Pyrola durch einen Löffel voll Honig. Eine meiner Töchter sieht der andern völlig gleich, und alle scheinen von gleichem Alter. Aber Pyrola, meine jüngste Tochter, ist mir besonders lieb. Und gerade an ihr muss die Erlösung geschehen. An ihrem Hauche muss man erkennen, welche von den dreien den Honig gegessen, obgleich seitdem zweitausend Jahre verstrichen sind.«
Als er dieses gesagt, führte der unglückliche König den Königssohn heraus und schloss die dritte Säulenpforte auf. Da waren alle Zimmer mit edlen Steinen von allen Farben geziert, Wohlgerüche und sanfte Töne schwebten aus dem Hintergrund hervor, Kühlung wehte ihnen entgegen. Und in einer Bettstätte, die mit Laubwerk von grünen und farbigen Edelsteinen umgeben war, lagen in dem höchsten mittelsten Saale wie tote Marmorbilder Rubina, Briza und Pyrola, alle drei von ausnehmender, aber gleicher Schönheit. Die Pracht des Saales und die Schönheit der Prinzessinnen, die Musik und die Wohlgerüche betäubten ihn ganz, dass er nicht mehr wusste, was er tun sollte, bis ihn der König des Schlosses daran erinnerte und sprach: »Die Sonne steht im Mittag. Wenn sie niedergeht und du hast noch nicht erkannt, welche die jüngste ist, so trifft dich gleiches Schicksal wie deine Brüder, und ich muss wieder stumm sitzen wie vorher, bis sich wieder ein anderer Fremdling hierher verirrt. Erkennst du aber, ohne zu raten, meine Tochter Pyrola, so ist sie deine Gemahlin, und du erbst mein Reich.« Der jüngste Königssohn aber eilte hinaus und jammerte und weinte, und der Wald hallte wider von seinen Klagen.
Und wie er so klagte und jammerte, hörte er eine Stimme ihm rufen und zu ihm sagen: »Was klagst du, lieber Fremdling?« Da sah er auf und erkannte die Bienenkönigin auf dem Baumstamme sitzen. »Ach«, sagte er, »wie kann ich das erkennen, welche von den drei Prinzessinnen vor zweitausend Jahren Honig gegessen hat?« â »Was?«, fragte die Bienenkönigin. »Ist es weiter nichts? Wie magst du darum auch so klagen? Ich will dir eine Biene mitgeben, die soll um alle herumfliegen. Aber die ist es, der sie auf die Lippen setzt.« Darauf ging die Königin hinein in die Höhle, und eine Biene flog heraus und setzte sich ihm auf die Schulter. Und er trug sie in den Saal zu den schlafenden Königstöchtern. Da flog sie zu allen und schwärmte herüber und hinüber und setzte sich endlich auf den Mund der mittelsten. Da sprach der Königssohn zu dem eisgrauen Könige: »Die mittelste ist Pyrola, deine jüngste Tochter!«
Und kaum hatte er das gesagt, da krachte und donnerte und blitzte es, als wollte die Erde zusammenstürzen, und alles war verändert: Das kleine graue Männlein stand da als ein würdevoller, majestätischer alter König. Die Prinzessinnen standen in blühender Schönheit da und umarmten ihren Vater, und die jüngste, Pyrola, kam herzu und dankte ihrem Erretter, dem jungen Königssohne. Und der
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