Der große deutsche Märchenschatz
Seejungfer vergessen und laut aufgeschrien; aber er besann sich noch rechtzeitig und erduldete alles, ohne dass ein Sterbenswörtchen über seine Lippen gekommen wäre. Endlich war er gar; und nachdem der Oberste von den zwölfen mit der Gabel hineingestochen hatte, um nachzusehen, ob er auch überall schön mürbe wäre, trug man ihn auf den Tisch. Schon hatten sie die Messer angesetzt, um sich jeder ein Stück von dem Braten zu schneiden, als die Glocke zwölf schlug. Da war alles wieder verschwunden, die Seejungfer trat herein und bestrich Johann vom Kopf bis zu den FüÃen, und frisch und gesund lag er vor ihr auf dem Erdboden.
Er mochte aber seinen Augen gar nicht trauen, denn aus der Seejungfer war die schönste Prinzessin in goldenem Kleide geworden. Die blickte ihn liebreich an und sagte: »Johann, jetzt bin ich erlöst, und du bist mein Retter! Zum Dank dafür will ich dich heiraten; aber zuvor muss ich in mein Königreich Siebenbürgen. Morgen, übermorgen und den folgenden Tag kehre ich um die Mittagszeit zwischen elf und zwölf Uhr hierher zurück; wenn du dann wachend unter der groÃen Linde meiner wartest, nehme ich dich mit mir in mein Reich, und du sollst König werden.« Johann versprach der Prinzessin, er werde gewiss wach bleiben; dann gab er ihr einen Kuss, und verschwunden war sie.
Um sich die Langeweile bis zum kommenden Mittag zu vertreiben, aà und trank er nach Herzenslust, was die alte Hexe ihm vorsetzte. Das war aber ein teuflisches Weib und mischte ihm einen Schlaftrunk unter den Wein. Er mochte darum die Augen aufreiÃen und sich in die Lippen beiÃen und mit den Fingern kneifen, so viel er wollte, um ein halb elf Uhr war er fest eingeschlafen. Er schnarchte laut vor sich hin, als ein prächtiges Viergespann, mit kohlrabenschwarzen Rappen bespannt, unter der Linde hielt.
»Johann, wachst du?«, rief die Prinzessin und stieg zum Schlage heraus. Aber Johann mochte gerüttelt und geschüttelt, geknufft und gepufft werden, er wachte nicht auf. Als es zwölf war, legte ihm die Prinzessin traurig ihr gesticktes Taschentuch in den Schoà und schrieb auf einen Zettel die Worte: »Schläfer, du hast schlecht Wort gehalten. Morgen komme ich um dieselbe Zeit. Wenn du auch dann schläfst, kann ich nur noch einmal kommen. Darum ermanne dich und halte dich wach.« Sodann stieg sie wieder in ihren goldglänzenden Wagen und fuhr nach Siebenbürgen zurück.
Kaum war sie fortgefahren, so verlor sich die Wirkung des Schlaftrunkes, und Johann schlug die Augen auf. Da sah er das Tuch und den Zettel in seinem SchoÃ. Anfangs machte er sich die bittersten Vorwürfe, endlich tröstete er sich damit, dass morgen auch noch ein Tag sei, und nahm sich fest vor, nicht wieder vom Schlafe sich übermannen zu lassen. Alle Vorsätze halfen aber zu nichts; denn die Alte mengte wieder einen Schlaftrunk unter den Wein; und wenn Johann auch tat, was er konnte, um wach zu bleiben, und bis ein Viertel vor elf sich munter hielt, so überwältigte ihn doch endlich die Gewalt des Zaubertrankes, und er schlief so fest wie den Tag zuvor, als die Prinzessin um elf Uhr unter der Linde hielt.
Diesmal waren vier stattliche Braune vor den Wagen gespannt, und die Diener trugen braune Kleidung. »Johann, wachst du?«, rief sie aus dem Wagen heraus. Aber Johann schnarchte wie am Tage zuvor und war nicht aus dem Zauberschlafe zu erwecken. Da legte ihm die Prinzessin wiederum ein gesticktes Taschentuch auf den Schoà und schrieb dazu auf einen Zettel: »Morgen ist das letzte Mal, dass ich zu dir kommen darf. Halte dich wach, sonst hast du mich für ewig verloren.« Dann stieg sie in ihren Wagen, die Bedienten saÃen auf, und zurück gingâs durch die Lüfte nach Siebenbürgenland.
Als Johann erwachte und das Taschentuch und den Zettel erblickte, wusste er vor Zorn und Ãrger nicht wo aus noch ein. Er ahnte nicht, welche Bosheit er von der alten Hexe zu besorgen hatte, und schob sich selbst alle Schuld an dem Unglück zu: »Gott sei Dank, dass noch ein Tag ist«, rief er aus, »morgen werde ich gewiss nicht verschlafen!« Und er war seiner Sache so sicher, dass er bald wieder fröhlich bei Wein und Braten saà und auch der mit Schlaftrunk gemischten Flasche wie früher fleiÃig zusprach. Aber kurz vor der Zeit, dass die Prinzessin kommen sollte, überfiel ihn wieder die Mattigkeit, und wenn er
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