Der Grosse Eisenbahnraub: Roman
meisten Bahningenieure richtig erkannt, daß das »Schwanken« der Waggons durch das sogenannte »Bernouillische Gesetz« zu erklären war.
Der Schweizer Physiker Daniel Bernouilli hatte entdeckt, daß der Druck innerhalb eines sich bewegenden Luftstroms geringer ist als der Druck der ihn umgebenden Luft.
Das bedeutete, daß zwei fahrende Züge, die dicht aneinander vorbeifuhren, im Augenblick der Begegnung durch das zwischen ihnen entstehende Teilvakuum sich gegenseitig »ansaugten«. Die Lösung des Problems war einfach und wurde beim Bau späterer Bahnstrecken berücksichtigt: die parallellaufenden Gleise wurden einfach in größerem Abstand voneinander verlegt, und damit verschwand dieses Phänomen.
Heute erklärt das Bernouillische Gesetz zum Beispiel, warum ein Ball eine Kurve beschreibt, warum ein Segelboot in den Wind segeln kann und warum die Tragflächen einem Flugzeug Auftrieb verleihen. Damals wie heute wurden diese Phänomene von den meisten Menschen aber nicht als Auswirkungen physikalischer Gesetze verstanden.
Die meisten Menschen des Jet-Zeitalters wären vermutlich verblüfft, wenn man ihnen sagte, daß ein Jet fliegt, weil er durch ein Teilvakuum an der Oberfläche der Tragflächen buchstäblich nach oben gesaugt wird. Die Triebwerke haben nur die Aufgabe, die Maschine so zu beschleunigen, daß sich ein Luftstrom bilden kann, der dieses notwendige Vakuum erzeugt.
Ein Physiker würde aber selbst diese Erklärung als nicht korrekte Vereinfachung verwerfen und sagen, daß in Wirklich keit alles noch sehr viel komplizierter sei, als der Laie es sich ohnehin schon vorstelle.
So ist es ohne weiteres verständlich, daß auch Pierce nicht begriff, worum es ging, und falsche Schlußfolgerungen zog.
Er war offensichtlich der Meinung, der einen Eisenbahnwaggon umgebende Luftstrom, wie er von »Baroni« beschrieben worden sei, werde ihn an das Wagendach »saugen«, so daß er sich gefahrlos von einem Waggon zum anderen bewegen könne.
Die Wahrheit ist aber, daß das Bernouillische Gesetz keineswegs in der von ihm vermuteten Weise wirkte. Pierce setzte sich bei seinem Unternehmen einem mit fünfzig Meilen pro Stunde daherrasenden Luftstrom aus, der ihn jeden Moment vom Wagendach herunterfegen konnte.
Und was er sich vorgenommen hatte, war einfach absurd. Pierce hatte aber auch sonst falsche Vorstellungen von der Gefahr, der er sich aussetzte. So wußte er wie seine Zeitgenossen sehr wenig darüber, was passieren würde, wenn man bei den neuen hohen Reisegeschwindigkeiten von einem Fahrzeug geschleudert wurde.
Pierce hatte Hackensprung-Jack zwar nach dem Sturz aus dem Zug tot am Boden liegen sehen, dies aber nicht als unvermeidliche Folge physikalischer Gesetze betrachtet.
Damals ahnte man nur vage, daß ein Sturz aus einem fahrenden Zug gefährlich sein könne. Fuhr ein Zug sehr schnell, so meinte man, daß dies die Gefahr nur etwas erhöhe. Die Gefährlichkeit sah man eher in der Art des Sturzes: Wer Glück habe, so dachte man, könne mit ein paar Kratzern davonkommen, wer Pech habe, könne sich bei unglücklichem Aufprall das Genick brechen. Ein Sturz aus einem fahrenden Zug wurde also ähnlich betrachtet wie ein Sturz von einem Pferd: Einige Stürze waren eben schlimmer als andere, und damit hatte es sich.
So war es in der Frühzeit der Eisenbahnen bei waghalsigen jungen Leuten ein beliebter »Sport« gewesen, von Waggons herabzuspringen; es war der gleiche Typ junger Männer, die in späteren Jahren an öffentlichen Gebäuden herumkletterten oder an anderen verrückten Eskapaden teilnahmen. Besonders Studenten hatten eine Vorliebe für Vergnügungen dieser Art.
Das »Wagenspringen« bestand darin, daß man von einem fahrenden Eisenbahnwaggon absprang. Obwohl die Regierung dieses Treiben verurteilte und die Bahngesellschaften es rundheraus untersagten, erfreute sich dieser Sport von 1830 bis 1835 vorübergehend großer Beliebtheit. Die meisten jungen Leute, die sich an solchen Späßen beteiligten, kamen mit ein paar Schrammen oder mit einem Knochenbruch davon. Die Modetorheit büßte allmählich an Beliebtheit ein, aber die Erinnerung daran hielt den Glauben aufrecht, daß ein Sturz aus einem fahrenden Zug nicht unbedingt tödlich sein müsse.
In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts erreichten die meisten Züge eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 25 Meilen pro Stunde. Um 1850 aber, als die Reisegeschwindigkeit der Züge sich verdoppelt hatte, sahen die Folgen eines Sturzes erheblich
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