Der Grosse Eisenbahnraub: Roman
anders aus. Wie die Aussage von Pierce jedoch bezeugt, war diese Erkenntnis noch nicht Allgemeingut geworden.
Der Ankläger fragte: »Haben Sie gegen einen möglichen Sturz irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen ergriffen?«
»Das habe ich in der Tat«, erwiderte Pierce, »und sie waren sehr lästig. Unter meiner normalen Oberbekleidung habe ich zwei Garnituren dicke Baumwollunterwäsche getragen, wodurch mir unerträglich heiß wurde. Ich habe diese Vorkehrungen jedoch für nötig gehalten.«
Edward Pierce, der also völlig unvorbereitet war und von den Wirkungen der in Betracht kommenden physikalischen Gesetze ein völlig falsches Bild hatte, schlang sich eine Seilrolle um die Schulter, öffnete die Abteiltür und kletterte hinauf auf das Dach des dahinrasenden Eisenbahnwagens. Sein einziger wirklicher Schutz – und die Ursache für seine Kühnheit – lag in der völligen Verkennung der Gefahr, in die er sich begab.
Der Wind traf ihn wie ein mächtiger Fausthieb, jaulte in seinen Ohren, stach ihm in die Augen, blies ihm in den Mund und riß an seinen Wangen; seine Haut brannte. Er hatte seinen langen Mantel nicht ausgezogen, und dieses Kleidungsstück umflatterte ihn jetzt und peitschte seine Beine, »so heftig, daß es schmerzte«.
Ein paar Augenblicke verlor er durch die unerwartete Wucht des ihn umtosenden Windes jede Orientierung; tiefgeduckt klammerte er sich an das hölzerne Wagendach und wartete, bis er die Fassung wiedergewonnen hatte. Er entdeckte, daß er kaum nach vorn sehen konnte, weil ihm die Rußpartikel aus dem Schlot der Lokomotive in die Augen flogen. Bald waren seine Hände, sein Gesicht und seine Kleidung mit einer feinen schwarzen Rußschicht bedeckt. Unter ihm schaukelte und schwankte der Waggon höchst beunruhigend und unberechenbar.
In diesen ersten Augenblicken hätte er sein Vorhaben um ein Haar aufgegeben, aber nachdem er den ersten Schock überwunden hatte, beschloß er, seinen Plan doch durchzuführen. Auf Händen und Knien kriechend bewegte er sich rückwärts auf das Ende des Wagens zu und hielt vor dem Zwischenraum zum nächsten Waggon inne. Unter ihm quietschte die Kupplung. Der Abstand betrug etwa fünf Fuß. Es vergingen einige Sekunden, bis er den Mut fand, zum nächsten Wagen hinüberzuspringen, aber der Sprung glückte.
Von dort kroch er mühsam über den zweiten Waggon hinweg. Sein Mantel schlug ihm von hinten um die Ohren, so daß er kaum noch etwas sehen konnte. Er kämpfte, um sich von dem Kleidungsstück zu befreien, und nach einigen Augenblikken konnte er den Mantel abschütteln. Er sah ihn durch die Luft segeln, herumwirbeln und schließlich neben dem Gleisbett auf die Erde fallen. Der Mantel hatte wie ein durch die Luft sausender Mensch ausgesehen. Pierce wurde nachdenklich, er wußte nun, was ihn erwartete, wenn er auch nur den kleinsten Fehler machte.
Ohne den Mantel kam er auf den Dächern der ZweiterKlasse-Wagen rascher voran. Er sprang mit wachsender Zuversicht von einem zum andern und erreichte schließlich – er konnte nicht abschätzen, wie lange er für den Weg brauchte – den Packwagen. Ihm kam es wie eine Ewigkeit vor, aber später rechnete er aus, daß nicht mehr als fünf oder zehn Minuten vergangen sein konnten.
Als er sich auf dem Packwagen befand, hielt er sich an der Öffnung einer Lüftungsklappe fest und entrollte sein Hanfseil. Ein Ende ließ er durch die Öffnung ins Wageninnere gleiten, und nach einem Augenblick spürte er an einem Ruck, daß Agar es dort unten aufgenommen hatte.
Pierce drehte sich um und kroch auf die zweite Klappe zu. Dort wartete er, flach hingekauert, um sich vor dem gnadenlosen Wind zu schützen, bis eine schaurig grüne Hand – Agars Hand – durch die Öffnung langte und das Ende des Seils herausreichte. Pierce nahm es, worauf Agars Hand verschwand.
Das Seil war jetzt gesichert. Pierce knotete die Enden an seinem Gürtel fest, und am Seil hängend ließ er sich vorsichtig an der Seite des Packwagens herunter, bis er sich auf gleicher Höhe mit dem Vorhängeschloß befand.
So hing er mehrere Minuten in der Luft und versuchte, das Vorhängeschloß zu öffnen. Er hatte einen Ring mit Nachschlüsseln bei sich und probierte einen nach dem andern aus, wobei er, wie er später mit feiner Untertreibung aussagte, »so behutsam vorging, wie die Umstände es erlaubten«. Er versuchte es mit mehr als einem Dutzend Schlüsseln und war nahe daran zu verzweifeln, als plötzlich der schrille Laut der Lokomotivpfeife
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