Der Große Fall (German Edition)
jeden Fall kein Mensch.
Die Vorstellung, einen Zuschauer und Zuhörer zu haben, und zwar schon die längste Zeit, einen, der hinter ihm stand und still den Kopf schüttelte, war so stark, daß er sich umdrehte. Niemand. Nur dashohe Gras wehte. Und trotzdem blieb sie, die Vorstellung. Er dachte sich weiter beobachtet, von einem Unsichtbaren. Das geschah ihm auch sonst immer wieder, wenigstens einmal am Tag, und sei es für einen Augenblick. Da freilich tat das Bild von solch einem Beäugt-und-gehört-Werden eher gut; es kräftigte, es klärte, es – lichtete, während es ihn jetzt, an diesem Tag, in diesem einen Moment, von Grund auf in Frage stellte. Es war, als habe er sich vor dem unsichtbaren Beobachter, und vor aller Welt, entlarvt. Er war nicht der, als der er ansonsten, auch jenseits seiner Filmrollen, erschien. Er war ganz und gar nicht der Seelenruhige, Unerschütterliche, Geistesgegenwärtige, die Dinge im Griff Habende, mit allem und jedem fast unmerklich – siehe seine Augen und Lippen – und umso tragender Mitgehende; hatte sie bloß vorgetäuscht, die Stille und Größe, welche nicht nur einen wie mich hier von ihm sprechen läßt als von »meinem Schauspieler«, in dem Sinn, wie man auch redet, und nicht bloß so, sondern stolz, und gültig für ein ganzes Leben, von »meinem Lehrer«, von »meinem Anwalt« (der sich vielleicht nie eingestellt hat, oder jedenfalls nie im rechten Moment), von »meinem Fürsten« (auch wenn so einer schon lange ausgestorben scheint), oder, warum nicht, auf andere Weise, und doch ebenso faststolz und wie lebenslang gültig, von »meinem Schuster«,»meinem Tischler«, »meinem Arzt«, »meinem – Souffleur« …
Für ihn war es Tatsache, und nicht bloß Vorstellung: Mit seinem Gehampel, dem so schlecht gemachten wie schlecht machenden, vor dem Unsichtbaren und vor aller Welt hatte er sich sein Spielertum verscherzt und seine Spielerehre verloren, nicht für immer, aber für eine Zeitlang, für die folgende Stunde, für den Weg quer durch die Lichtung, für drei Schritte – die aber zählten. Und er war seinen Beruf los (wie er es sich im übrigen nicht erst einmal, fast, gewünscht hatte), zumindest bis zum morgigen Tag und dem Beginn des Films. »Ich bin falsch. Ich bin der Falsche.« – Das hörte sich an wie gesungen, und anders als die fremde Stimme gerade noch. Es stimmte überein mit seiner Gestalt, so wie die dabei sich ausbreitenden Arme und ruhig auf dem Boden stehenden Beine. Wenn das nicht Heiterkeit ausdrückte, was dann?
»Ich bin der Falsche. Und auch die Lichtung ist falsch, sie ist eine Fälschung. Und auch die Wälder sind falsch.« Sie konnten heiter stimmen, die Entzauberungen. Siehe da: die Kirschbäume am Lichtungsrand, im Sommer jetzt längst wieder ohne Früchte, höchstens zwischen den, wie nur an Kirschbäumenim Sommer, schlapphängenden Blättern ein paar Stengel ins Leere ragend, hier und da mit fleischlosen und ausgedörrten Kernen daran. Und siehe da: auch die schöne Weglosigkeit der Lichtung, einzig weit und breit das durch sie hinziehende hohe Gras, hatte getäuscht. Ein ganzer Sternkreis von Wegen mußte sie durchziehen, zu sehen, mit dem Trocknen in der Sommermittagssonne, an den Staubschwaden, aufgewirbelt von den schweren Reifen der Bikes, auch, in einem anderen Maß, von den Wanderschistöcken, und zu hören an dem Knirschen von dem Kies, mit dem die oberste Schicht des Wegesystems offenbar bestreut war. Was einmal urwüchsige Lichtung, fern von allem, gewesen war, gehörte jetzt zu einem weltstadtnahen Wald, fast schon einem Park. Wenn es aus der Weglosigkeit einen Übergang dahin gab, dann hatte er den nicht bemerkt. Die frühere Weltferne oder Wildnis spielte freilich noch in die Welt da hinein. Beides schien sich aneinander zu messen, und es war, als machten das Knirschen der Grillen und das des Kieses, das Schrillen der Falken und das der Fahrradglocken sich Konkurrenz. Einmal gewann das die Oberhand, dann jenes. Ein anders schönes Hin und Her. Und inmitten der Lichtung, im Zentrum des Wegekarussells, die eine, eher krüppelige Tanne – wie hatte er die übersehen können? –, da angepflanzt und ganz fremd in derLaubwäldergegend: behangen die Tannenäste bis oben hinauf mit den aus dem Urwuchsbereich herangewehten Edelkastanienschnüren – ein falscher Christbaum.
Das Besondere an dem künstlichen Baum wurde ihm erst sichtbar, als er davor stand, in der Mitte der Lichtung, im Mittelpunkt der sich kreuzenden Wege.
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