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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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worauf sein Kollege den verdrehten Arm des Schauspielers freigab – der ließ ihn aber, wie er war, hinten am Rücken –, und betrachtete den Gewalttatplaner für eine Sekunde so lange, daß der andere sich selber zu betrachten glaubte. Darauf sagte der zweite Polizist, oder was er war (im übrigen etwa gleich alt, oder jung, wie der erste): »Sie sind doch hoffentlich nicht hierhergekommen, um sich etwas anzutun? Um aus dem Leben zu gehen? Sie müssen wissen, Monsieur, lieber Herr« – das sagte er in des Schauspielers Mutter- und Vatersprache –, »daß diese Gegend Selbstmörder anzieht. Auch deswegen machen wir hier Streife.« Der erste, ihn unterbrechend: »Untersteh dich, hier zu krepieren und als stinkendes Aas herumzuliegen. Das ist ein öffentlicher Ort, Selbstmörder verboten. Und außerdem ist das nicht dein Land. Geh zum Verrecken in dein eigenes Land!« Der zweite Polizist ließ sich dann aber nicht mehr unterbrechen und fuhr etwa folgend fort, wobei er den Schauspieler weiterhin dringlich betrachtete: »Mein Partner, er meint es so, so ist er, so war er, als wir zueinanderkamen, und so wird er bleiben. Und Sie, mein Herr, Monsieur, Signore, Caballero, werden jetzt in Frieden weitergehen, auch wenn ich Ihnen ansehe, daß Sie eine Gefahr sind, ich weiß nicht, ob für andere oder für sich selber. Nein, es ist keine Gefahr, es ist weniger, und es ist mehr. Viel Glück, hier und woanders! Allein heute haben sich bis zur Stunde im Großraum einundzwanzig Menschen vor die Züge und Untergrundbahnen geworfen, oder sind gestoßen worden.« Und er reichte dem Schauspieler die Hand, worauf der sagte: »Aber hier fährt doch kein Zug«, worauf die beiden Polizisten in ihr Auto stiegen, dessen Motor die ganze Zeit gelaufen war, und auch schon in dem Urwäldchen am Gleisfeld verschwunden waren.
    Es war ein Urwald, ein allerdings schmaler, ein bloßer Streifen zwischen dem Gleisfeld und dem Stadtmeer unten. Das zeigte sich, als er ihn betrat, nicht auf der Piste, der schlammigen, mit Pfützen wie noch aus der letzten Regenzeit, auf welcher der Polizeiwagen, oder was er war, filmreif aus dem Bild gerast war. Betrat? Betreten war etwas anderes, er hatte sich durchzuschlagen, und er wollte das auch, das mußte jetzt sein. Kein anderer wäre durch solch ein Dickicht gekommen, ein Gestrüpp, zäher verzahnt als jeder Flechtzaun aus Weideruten. Er wußte aber jeden Schritt, jedes Ausweichen, Sicheinrollen, Sichschmal- und -breitmachen im voraus, und wußte auch im voraus, daß und wie er den jenseitigen Saum erreichen würde, wie man manchmal schon im Moment des Ausholens zum Werfen gewiß ist, daß man treffen wird. Und er riß sich nicht einmal das Gewand neu ein, welches – ich habe vergessen, das zu erwähnen – vorher an dem Sakristeitisch zusammen mit dem Ornat des Priesters geflickt worden war. Die Worte des zweiten Polizisten hatten ihn auf den Sprung gebracht, und er wollte sie quer durch den Urwald loswerden. Er fühlte sich an seinen Vater erinnert: Auch der hatte ihm immer wieder Dinge auf den Kopf zugesagt, die ihm erst dadurch in den Kopf kamen. Und nie waren das Dinge gewesen, die weiterbrachten oder ein Licht aufgehen ließen, vielmehr Verkleinerungen, Verengungen, und überhaupt, was den Sohn betraf, Schwarzsehen, ausnahmslos. Und dabei war der Polizist jünger, viel jünger gewesen als er, hätte sein Sohn sein können.
    Auf der anderen Seite des Urwalds war er unversehens von der ganzen Stadt umgeben, und für einen Augenblick meinte er, sich auf einem Hügel zu befinden, welcher das innerste Zentrum einnahm. Jedenfalls stand er da auf einer Steilkante, und es war, als reichten selbst die höchsten der Häuser an den Horizonten kaum bis zu ihm herauf, und es sei der Stadtgrund zu seinen Füßen so tief unten, daß er, hätte er einen Zusatzschritt getan, ins Leere gestürzt wäre. Und warum eigentlich nicht – los! –, wobei ihm einfiel, wie er als Junger, betrunken oder nicht, manchmal in irgendwelchen schwindelnden Höhen, das konnte die Terrasse eines Fernsehturms sein, mit einem Sichfallenlassen gespielt hatte, stumm, für sich allein, und unernst. Einmal aber sprach er es laut aus, in Gesellschaft, einer Frau : »Ich werde jetzt springen!«, und glaubte danach, so zum Sprung verpflichtet zu sein, und ließ sich am Ende doch ohne weiteres, und dankbar, von der Frau zurückhalten.
    Hier jetzt war keine Gefahr, und nicht nur, weil der Abgrund täuschte und sich mit dem ersten Schritt, nach dem

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