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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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wurde hinten, vor schien zurück, und umgekehrt, und wieder umgekehrt, und so fort im Durcheinander. Die kleinsten der Häuser unten ragten himmelhoch über ihm auf, der Fluß strömte aufwärts, dann kurz wieder abwärts, und im nächsten Moment werweißwohin, und die Passanten in den Straßen, bewegten sie sich auf ihn zu? oder entfernten sie sich? – nicht zu unterscheiden durch die tiefstehende Sonne. Und die Zeitnot hieß weiter? Man kam durcheinander mit der Zeit selber. War es Morgen oder war es Abend? Kein Gedanke, was für ein Tag das jetzt war, und was für ein Jahr man gerade schrieb. Überhaupt kein faßbarer Gedanke, weder an ein Wo, noch an ein Wann, und schon gar nicht an ein Wen, an jemand anderen. Wenn ein Denken, so allein in Zahlen, und entsprechend der Zeitnot ganz unsinnigen, und konnte man das ein Denken nennen? Und dazu im Innern tonlos ein Singen, ein nichtendenwollendes, immer neu einsetzendes, welches das Durcheinander komplett machte. Ein Singen von etwas Bestimmtem, mit einem bestimmten Text? Ja, der Hymne an die Freude. »Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium …«
    In den Stunden der Zeitnot und der Notzeit war es immer wieder geschehen, daß mein Schauspieler auf dem Höhepunkt des Durcheinanders seine Bewegungen abgebrochen und zu sich selber gesagt hatte: »Es ist aus. Ich lasse alles liegen und stehen. Ich rühre keinen Finger mehr. Ich sage kein einziges Wort mehr. Die schwarze Wolke am Horizont ist über mich gekommen, ich bin sie selber. Der böse Mond ist aufgegangen, ich bin es selber. Bleibt alle weg von mir, jetzt, und in der Stunde meines Todes, welche jetzt ist.« So hatte er übrigens schon zu sich geredet an dem Morgen vor vielen Jahren, als er unterwegs zu seiner Fliesenlegerarbeit, in einer Villa auf einer Nordseeinsel, stockte und die Arbeit Arbeit sein ließ, für immer. Und wer hatte ihn dann gerettet? Eine Frau, eine schon lange tote, von der er bis an sein Ende die Worte im Ohr haben würde – sie wurden gesprochen in das Telefon des transkontinentalen Krankenhauses, Fairbanks, Alaska und waren ihre letzten: »Ich bin müde.« Oder, weniger die drei Sterbenswörtchen als die Stimme. Was für eine Stimme. So war er, der auf das Retten aus war, selbst, zumindest einmal, gerettet worden? Ja, von einer Frau, von einer Abenteuerin, wie die seine eine gewesen war. Und wenn er an die eigene Rettung dachte, dachte er sich die immer noch von einer Frau? Dachte er überhaupt noch an Rettung? Wollte er überhaupt nochgerettet werden? Keine Antwort. – Was ihm in solcherart Zeitnot wieder Beine machte, das war dann der bewährte Gedanke, sein eigener Zuschauer zu sein, etwa in dem Sinn, wie ein Betrunkener einem Stockbetrunkenen begegnet und von dem Anblick wieder fast nüchtern wird.
    Im Nüchternwerden war die Zeitnot auch endlich zu bedenken: Sie war zugleich begleitet gewesen von einer monströsen Langeweile, und die Langeweile war in eins gegangen mit Hektik und vor allem Unaufmerksamkeit. In der Zeitnot war die Erde nicht nur ein fremder, sondern darüber hinaus ein feindlicher Stern. Und seltsam wieder, daß diese Not nur auftrat an Tagen des Müßiggangs. Aber war Müßiggehen denn nicht eine Notwendigkeit? Und so auch die Zeitnot?

8
    An dem Tag des Großen Falls ließ er nichts, aber auch gar nichts liegen und stehen, raffte seine Siebensachen mehr schlecht als recht zusammen und stürzte den Steilhang hinunter, der Teil einer mittelalterlichen Bastei gewesen war und, nach der Graskuppe oben, frisch freigelegt schien, mit nackten, wie polierten Steinen. Es war in der Tat ein Stürzen, und er hätte, kopfüber wie er hinabstolperte, zu Tode stürzen können, nicht bloß wegen der offenen Schuhbänder. »Ich bin überzeugt, einen Schutzengel zu haben, sogar mehrere. Und einige habe ich im Lauf des Lebens schon verbraucht. Und irgendwann werde ich die alle verbraucht haben.«
    Unten an der Schwelle zur inneren Stadt angekommen, hätte der Schauspieler, gemäß seiner Gewohnheit beim Verlassen eines Orts, wieder ein paar Schritte rückwärts tun können. Aber das kam nicht mehr in Frage. Er würde bis ans Ende seiner Geschichte nicht mehr rückwärts gehen, nicht einmal mehr über die Schulter schauen, und auch keine Umwege machen, sondern sich schnurstracks geradeaus bewegen, mochten ihm dabei auch noch und nochAbweichungen unterlaufen. Ende des Königs Rückwärtsgeher.
    Die Schwelle zu den inneren Bezirken wurde markiert von einer der neuerrichteten

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