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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Durchbrechen des Gestrüpps, als vorgegaukelt erwies: Er würde sich auch hüten, den Magnetismus der Tiefe auszusprechen, und sei es vor sich selber. Statt dessen legte er sich stumm ins kurzgemähte Gras der Steilkante – die gehörte zueinem Parkstreifen oder -ring, entsprechend zuvor dem Autobahnring, und der Parkring war schon Teil des Zentrums, wie überhaupt alles, so weit das Auge reichte, und es reichte weiter als weit, zum Zentrum gehörte und selber, die Kirchtürme, Minaretts, Banken, Telefon- und TV -Zentralen, der Fluß mit den Staffeln der Brücken, genauso wie die Gärten dazwischen, die Laubenkolonien, die Marktbuden, die Busunterstände und sogar die einzelnen Bäume, die Straßenbahnschienen, die Metroeingänge, die Ampeln dort, dort, unbedingt der Kinderwagen, der Papierkorb, der Hydrant, das WC -Häuschen, Zentrum war.
    Er streckte sich aus und schaute zum Himmel. Warum ihm da jener andere Schauspieler in den Sinn kam, einer seiner seltenen Freunde, und dazu einer mit demselben Beruf? Der andere, wie er sich eines Abends oder Nachts am Saum zwischen Urstromland und Wattenmeer in den Sand gelegt hatte und sich von der Flut aus dem Erdendasein spülen ließ. Ein schwerer Mensch war der gewesen, und ein leichtfüßiger. Er dagegen, wie er da lag, wäre nicht schwer genug gewesen, noch nicht, nicht jetzt. Außerdem war ihm gar nicht nach Sterben, höchstens nach Vergehen, und dabei Bestehen. Und vielleicht war auch der andere darauf aus gewesen, so im Liegen an der Elementargrenze? Und nach was war ihm jetzt noch? Zum Beispiel nach einem Vogel, der aus dem heiteren Himmel auf ihn herabschisse, mitten auf die Stirn hier, bitte. Und wirklich klatschte dann ein Kotfladen herab, ins Gras nebenan, leider daneben.
    Ein einzelnes weißes Wölkchen bauschte sich auf in dem Sonnenblau, nahm Farben an, durchsichtige, märchenhafte, etwas wie ein Kopf wuchs ihm, und es bewegte Flügel oder ein feines Faltengewand. Eine sich entfaltende Rose? Nein, eine Meduse, welche sich quer über den Himmel näher pumpte, und blähte, und schrumpfte, und wieder anschwoll. Und der lange Spinnfaden, der lose, welcher knapp über ihm aus dem Dickicht wehte, verbreiterte sich, krümmte sich, nahm einen silbrigen Schimmer an, zeigte ein Rautenmuster und kitzelte ihn dann mit dem unteren Ende, als Zipfel einer Schlangenhaut, kein leichteres Ding denkbar und keine zartere Berührung, und auch das gehörte zum Zentrum, war Zentrum.
    Die Augen fielen ihm zu, und obwohl er sie wieder aufschlagen wollte, und wollte, gelang es ihm nicht, und nicht. Er witterte Gefahr, jedoch nicht für sich, wie er da auf der Graskante lag, die Füße im Leeren,das ein Abgrund hätte sein können. Es war keiner. Er fühlte sich neu eingesponnen in den Sommerwind, den stetigen, der an seinem Liegeplatz ein Aufwind war, von jedem der Zentren unten, und die Metropolengeräusche, einheitliche Sonorität, hüllten ihn allerseits ein und schützten ihn zusätzlich.
    Die Gefahr, sie drohte jemand anderem, und zwar seinem Sohn. Der war doch ein junger Mann und konnte sich selber helfen, oder? Und wenn er Hilfe brauchte, so käme sie besser von dritter Seite. War er denn nicht umgeben von seinesgleichen, die mit der Zeit seine wahren Angehörigen geworden waren und ihm im Notfall beisprängen? Der seit langem abwesende Vater hatte das Recht verwirkt, Helfer zu sein, und wäre außerdem keine Hilfe gewesen, da ginge von der toten Mutter größere Hilfe aus.
    Aber es handelte sich nicht um Hilfe, vielmehr um was? Um Rettung. Und für eine Rettung war er, der Vater, der Richtige, auch das war einmal Gewißheit. Auf ihn kam es an. Den Sohn retten, freilich wie? Und wovor? Woraus? Es war nicht so, daß der junge Mensch gerade im Wasser trieb, auf eine Stromschnelle zu, auf den Niagarafall, oder daß er nach einem Unfall unbemerkt, schwer verletzt in einem Gebüschgraben lag, oder in eine Schlangengrube gestürzt war, bei einer Alleinwanderung, am Südhang eines Karstgebirges. Er sah seinen Sohn in einer Todesgefahr, einer akuten, allerdings in keiner äußeren. Er sah, das Kind würde ohne ihn in der nächsten Stunde zugrunde gehen. Er sah, wie ihm, seinem Fleisch und Blut – noch nie hatte er das an sich gespürt, bis auf jetzt, an seinem Nachkommen! –, eine dritte Hand aus dem Brustinnern bräche, eine geballte, und es wäre um ihn geschehen. Und er sah sich selber, wie er losrannte und in einer einzigen Stunde Flüsse und Berge überquerte, hin zu seinem

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