Der große Fetisch
Verhaftung rechnen mußte.
Er war auch erpicht darauf, sie nicht aus Vizantia entkommen zu lassen, da er gehört hatte, daß in einigen anderen Ländern Mord als Verbrechen angesehen wurde. Marko wollte zwar gleich nach seiner Flucht aus dem Gefängnis von Gesetzen nicht mehr viel wissen, aber inzwischen hatte seine Neigung zur Gesetzestreue in ihm wieder Oberhand gewonnen.
Am dritten Tag seines Aufenthalts in Thiné ritt er auf das Gelände der Universität hinaus. Dort machte er den Professor ausfindig, bei dem er einst studiert hatte.
Gathokli Noli hatte Besuch in seinem Büro, einen Fremden, einen kleinen, grauhaarigen Mann mit hochgewölbtem Schädel, einer spitzen Nase und einem fliehenden Kinn. Der Mann war anglonisch gekleidet. Er trug eine Pluderhose und spitze Schuhe. Auf der Nase saß ihm eine Brille, eine Erfindung aus Mingkwo, die in Vizantia noch sehr selten zu sehen war. Das Haar war nicht auf vizantinische Art geschoren, sondern stand überall auf dem Kopf etwas mehr als einen Zentimeter grau und steif in die Höhe.
»Beim großen Fetisch von Mnaenn, das ist ja Marko!« sagte Gathokli Noli. »Komm rein, alter Junge. Marko, das ist Dr. Boert Halran aus Lann, der berühmte Philosoph.«
Marko antwortete mit der natürlichen Würde eines vizantinischen Gebirgsbewohners. »Was führt Sie nach Thiné Dr. Halran?«
»Ich bin gekommen, um Stupagummi zu kaufen, mein Herr.«
»Ist der in Anglonia nicht erhältlich?« fragte Marko.
»Ja, aber nur in geringen Mengen. Ich benötige eine große Menge, und deshalb kommt es mir billiger, wenn ich die weite Reise mache und den Gummi zu Großhandelspreisen erstehe.«
»Brauchen Sie den Gummi für ein Experiment?«
»Allerdings. Und zwar für das ungeheuerlichste Experiment des Jahrhunderts, wenn ich so sagen darf.« Halran strahlte ihn selbstzufrieden an.
»Wirklich? Darf ich wissen, worum es geht?«
»Haben Sie je etwas von einem Ballon gehört?«
»Nein, das Wort ist mir nicht geläufig.«
»Nun, sind Sie mit der Hypothese vertraut, daß eine Hülle, die man mit heißer Luft füllt, wie eine Luftblase im Wasser in die Höhe steigen würde?«
»Als ich auf der Universität war, wurde manchmal davon gesprochen. Ich studierte freilich Erziehungswissenschaften und habe mich kaum in die Naturwissenschaften vertieft.«
»Nun, ich habe tatsächlich Erfolg gehabt.«
»Sie haben eine Hülle aufsteigen lassen?«
»Ja, in verschiedenen Größen.« Der kleine Mann war die Begeisterung in Person. »Einer der größten dieser Ballons hob mich auf eine Höhe von dreißig Metern und blieb zwei Stunden oben. Die Bauern waren zu Tode erschrocken, als er auf ihre Felder niederging. Jetzt will ich einen Ballon verfertigen, der das Gewicht mehrerer Personen tragen kann. Die Hülle ist schon zusammengenäht. Es braucht nur noch der Stupagummi aufgetragen zu werden, damit sie luftdicht ist.«
»Wie erhitzen Sie die Luft?« fragte Marko.
»Mit Hilfe eines großen Torfofens.«
»Aha. Wenn das Gerät aber aufgestiegen ist, kühlt sich dann die Luft in ihm nicht ab? Sinken Sie dann nicht wieder hinab?«
»Irgendwann schon. Dieser Ballon hat jedoch über dem Korb einen kleineren Ofen hängen, und ich kann die Höhe viel länger halten, wenn ich der Hülle weitere heiße Luft zuführe.«
»Ich würde das gern sehen.«
»Wenn Sie um den dritten Perikles in Lann sind, kommen Sie doch vorbei. An dem Tag möchte ich meinen Ballon füllen, um zu der Philosophentagung nach Vien zu fliegen.«
Marko sagte: »Ich habe von diesen Tagungen der Philosophen gehört und würde gern an einer teilnehmen. Wie macht man das? Ich meine, muß man etwas Bestimmtes sein oder tun, um teilnehmen zu können?«
»Man braucht nur eine kleine Anmeldegebühr zu zahlen.«
»Das genügt? Man muß keinen besonderen Titel haben?«
»Nein. Wir Philosophen freuen uns, wenn sich die Öffentlichkeit für unsere Errungenschaften interessiert. Diese Tagungen werden erst seit etwa zehn Jahren abgehalten, doch mit jedem Jahr werden sie größer. Dieses Jahr gehen Gerüchte um, daß zwei Brüder, zwei Philosophen aus Mingkwo, kommen und aufsehenerregende Erfindungen mitbringen werden. Das heißt, wenn sich der Prem von Eropia nicht gerade zu der Zeit entschließt, einen Krieg vom Zaun zu brechen und seine Feinde abzuschlachten.«
»Ist er wirklich ein gefährlicher Mann?« fragte Marko, der die Extravaganzen Alzander Mirabos nur vom Hörensagen kannte.
Halran stieß einen Pfiff aus, verdrehte die Augen und
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