Der große Gatsby (German Edition)
ihm zusammen in Deutschland aufgewachsen ist«, versicherte er uns nachdrücklich.
»O nein«, sagte das erste Mädchen, »das kann nicht stimmen. Während des Krieges war er beim amerikanischen Militär.« Als sie merkte, dass wir eher wieder ihrer Version der Dinge zuneigten, beugte sie sich aufgeregt vor. »Beobachtet ihn mal, wenn er sich unbeobachtet wähnt. Ich wette, er hat jemanden umgebracht.«
Sie kniff die Augen zusammen und zitterte. Lucille zitterte. Wir drehten uns alle um und hielten nach Gatsby Ausschau. Es bewies, wie viel romantisches Rätselraten er auslöste, dass auch solche Menschen über ihn tuschelten, die sonst auf dieser Welt wenig gefunden hatten, über das zu tuscheln ihnen notwendig erschien.
Jetzt wurde das erste Abendessen serviert – nach Mitternacht würde es noch ein zweites geben –, und Jordan lud mich ein, mich zu ihr und ihren Freunden zu gesellen, die um einen Tisch am anderen Ende des Gartens gruppiert saßen. Es waren drei Ehepaare sowie Jordans Begleiter, ein hartnäckiger junger Student, der zu heftiger Anzüglichkeit neigte und unter dem Eindruck zu stehen schien, Jordan würde sich ihm früher oder später in dem einen oder anderen Maße hingeben. Anstatt umherzustreunen, hatte diese Gesellschaft eine würdevolle Geschlossenheit gewahrt und sich selber die Rolle des gediegenen Landadels zugewiesen– East Egg beehrte West Egg mit seiner Anwesenheit, sorgsam auf der Hut vor dessen spektroskopischer Fröhlichkeit.
»Kommen Sie«, flüsterte Jordan mir nach einer irgendwie vergeudeten und unerquicklichen halben Stunde zu. »Hier geht es mir viel zu gesittet zu.«
Wir standen auf, und sie erklärte, wir wollten uns auf die Suche nach dem Gastgeber machen – ich hätte ihn noch gar nicht kennengelernt, sagte sie, und das sei mir unangenehm. Der junge Student nickte auf zynische, schwermütige Weise.
An der Bar, wo wir zuerst nachschauten, herrschte Gedränge, doch Gatsby war nicht dort. Vom oberen Treppenabsatz aus konnte sie ihn nirgends entdecken, und auch auf der Veranda war er nicht. Auf gut Glück öffneten wir eine gewichtig aussehende Tür und betraten eine hohe gotische Bibliothek, die mit geschnitztem englischem Eichenholz getäfelt und vermutlich vollständig aus irgendeiner Ruine jenseits des Atlantiks hierher transportiert worden war.
Ein kräftiger Mann mittleren Alters mit einer riesigen Eulenaugen-Brille auf der Nase saß mehr oder minder betrunken auf der Kante eines großen Tisches und starrte mit unbeständiger Konzentration auf die Bücherregale. Als wir näher traten, schwang er erregt herum und musterte Jordan von Kopf bis Fuß.
»Was meinen Sie?«, fragte er ungestüm.
»Wozu?«
Er deutete mit wedelnder Hand auf die Bücherregale.
»Dazu. Sie brauchen’s nicht nachzuprüfen. Das hab ich schon erledigt. Sie sind echt.«
»Die Bücher?«
Er nickte.
»Vollkommen echt, mit Seiten und allem. Ich dachte, es wär schöne, haltbare Pappe. Dabei sind sie vollkommen echt. Mit Seiten und… Hier! Ich zeig’s Ihnen.«
Er schien überzeugt, dass wir es nicht glauben würden, denn er eilte ans Regal und kam mit Band eins der Stoddard Lectures zurück.
»Sehen Sie!«, rief er triumphierend. »Ein waschechtes Druckerzeugnis. Ich bin drauf reingefallen. Der Kerl ist ein richtiger Belasco. Einfach großartig. Diese Gründlichkeit! Dieser Realismus! Wusste genau, wie weit er gehen durfte – hat die Seiten noch nicht aufgeschnitten! Aber was wollen Sie? Was erwarten Sie?«
Er riss mir das Buch aus den Händen und stellte es hastig wieder ins Regal; wenn man einen Stein herausnehme, hörten wir ihn brummeln, drohe womöglich die ganze Bibliothek in sich zusammenzufallen.
»Wer hat Sie mitgebracht?«, fragte er. »Oder sind Sie einfach so hergekommen? Ich wurde mitgebracht. Wie die meisten hier.«
Jordan schaute ihn aufmerksam und munter an, ohne zu antworten.
»Mich hat eine Frau namens Roosevelt mitgebracht«, fuhr er fort. »Mrs. Claud Roosevelt. Kennen Sie sie? Ich hab sie gestern Abend irgendwo kennengelernt. Ich bin jetzt seit einer Woche betrunken und dachte mir, in einer Bibliothek zu sitzen würde mich vielleicht ausnüchtern.«
»Und hat es das?«
»Ein bisschen, glaube ich. Ich kann’s noch nicht sagen. Bin erst seit einer Stunde hier. Hab ich Ihnen schon von den Büchern erzählt? Sie sind echt. Sie sind –«
»Ja, haben Sie.« Wir schüttelten ihm feierlich die Hand und gingen wieder nach draußen.
Auf der Bühne im Garten wurde
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