Der große Gatsby (German Edition)
Lenkrad wieder herum. In dem Moment, als meine Hand das Steuer berührte, spürte ich den Stoß – sie muss sofort tot gewesen sein.«
»Sie wurde regelrecht aufgeschlitzt.«
»Verschonen Sie mich, alter Knabe.« Er verzog das Gesicht. »Wie auch immer – Daisy gab Gas. Ich wollte, dass sie anhielt, aber sie konnte nicht, also zog ich die Handbremse. Dann kippte sie zur Seite, mir in den Schoß, und ich fuhr weiter.«
»Morgen geht es ihr sicher besser«, sagte er nach einer kurzen Pause. »Ich möchte nur hier warten und sehen, ob er ihr wegen der unangenehmen Szene heute Nachmittag Schwierigkeiten macht. Sie hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen, und falls er irgendwie handgreiflich wird, schaltet sie das Licht aus und wieder an.«
»Er wird ihr nichts tun«, sagte ich. »Er denkt im Augenblick gar nicht an sie.«
»Ich traue ihm nicht, alter Knabe.«
»Wie lange wollen Sie hier warten?«
»Wenn’s nötig ist, die ganze Nacht. Jedenfalls so lange, bis alle schlafen gegangen sind.«
Mir kam ein neuer Gedanke. Angenommen, Tom fand heraus, dass Daisy am Steuer gesessen hatte. Er könnte glauben, dass es da einen Zusammenhang gab – er könnte alles Mögliche glauben. Ich drehte mich zum Haus um und sah unten zwei oder drei hell erleuchtete Fenster und oben im ersten Stock den rosa Lichtschein aus Daisys Zimmer.
»Warten Sie hier«, sagte ich. »Ich schaue mal nach, ob es irgendwelche Anzeichen von Streit gibt.«
Ich lief am Rand des Rasens entlang zurück, ging leise über den Kies und schlich auf Zehenspitzen die Stufen zur Veranda hoch. Die Wohnzimmervorhänge waren offen, und ich sah, dass der Raum leer war. Ich überquerte die Loggia, auf der wir an jenem Juniabend vor drei Monaten gespeist hatten, und kam zu einem kleinen Rechteck aus Licht, vermutlich das Fenster der Anrichte. Die Jalousie war heruntergezogen, aber ich fand einen Spalt unten beim Fensterbrett.
Daisy und Tom saßen einander am Küchentisch gegenüber, zwischen ihnen ein Teller kaltes gebratenes Huhn und zwei Flaschen Ale. Er redete eindringlich mit ihr, und in seinem Ernst hatte er unwillkürlich seine Hand auf die ihre gelegt. Dann und wann schaute sie zu ihm hoch und nickte zustimmend.
Sie waren nicht glücklich, und keiner von beiden hatte das Huhn oder das Ale auch nur angerührt – aber unglücklich waren sie auch nicht. Das Bild strahlte eine unverkennbare natürliche Intimität aus, und jeder hätte gesagt, die beiden heckten gerade etwas zusammen aus.
Als ich mich auf Zehenspitzen von der Veranda schlich, hörte ich, wie mein Taxi sich über die dunkle Straße langsam dem Haus näherte. Gatsby wartete noch dort, wo ich ihn vorhin hatte stehenlassen.
»Ist alles ruhig?«, fragte er besorgt.
»Ja, alles ist ruhig.« Ich zögerte. »Kommen Sie lieber mit nach Hause, und versuchen Sie ein bisschen zu schlafen.«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich möchte hier warten, bis Daisy ins Bett gegangen ist. Gute Nacht, alter Knabe.«
Er steckte die Hände in die Jackentaschen und nahm angestrengt die Beobachtung des Hauses wieder auf, so als ob meine Gegenwart seine heilige Wache entweihte. Also ließ ich ihn dort im Mondlicht stehen und weiterwachen – über nichts.
8
Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen; auf dem Sund stöhnte unablässig ein Nebelhorn, und ich warf mich halbkrank zwischen einer grotesken Wirklichkeit und wüsten, furchterregenden Träumen auf meinem Bett hin und her. Kurz vor Tagesanbruch hörte ich ein Taxi in Gatsbys Einfahrt einbiegen, und ich sprang augenblicklich aus dem Bett und zog mich an – ich hatte das Gefühl, als müsste ich ihm etwas sagen, ihn vor etwas warnen, und am Morgen wäre es dafür zu spät.
Ich ging über seinen Rasen und sah, dass die Haustür noch offenstand und Gatsby sich vor Mutlosigkeit oder Erschöpfung ganz benommen an einen Tisch in der Eingangshalle lehnte.
»Es ist nichts passiert«, sagte er matt. »Ich habe gewartet, und gegen vier kam sie ans Fenster, stand dort eine Minute lang und löschte dann das Licht.«
Sein Haus war mir noch nie so gewaltig vorgekommen wie in jener Nacht, als wir die riesengroßen Räume nach Zigaretten durchforsteten. Wir schoben Vorhänge zur Seite, die Festzelten glichen, und tasteten an unzähligen Metern dunkler Wände nach Lichtschaltern – einmal stolperte ich und platschte auf die Tasten eines geisterhaften Klaviers. Überall lag unerklärlich viel Staub, und die Zimmer waren muffig, als wären sie seit Tagen nicht gelüftet
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