Der große Gatsby (German Edition)
Morgendämmerung ankündigte. Gegen fünf war es draußen blau genug, um das Licht auszuknipsen.
Wilsons glasiger Blick wanderte hinaus zu den Aschehügeln, wo kleine graue Wölkchen phantastische Formen annahmen und im leichten Morgenwind hierhin und dorthin eilten.
»Ich habe mit ihr geredet«, murmelte er nach langem Schweigen. »Ich habe ihr gesagt, mir könne sie vielleicht etwas vormachen, aber Gott nicht. Ich bin mit ihr zum Fenster gegangen…« – er erhob sich mühsam, trat ans hintere Fenster und drückte das Gesicht an die Scheibe – »…und habe gesagt: ›Gott weiß genau, was du getan hast. Alles. Mir kannst du vielleicht was vormachen, aber Gott nicht!‹«
Michaelis stellte sich hinter ihn und erschrak, als er begriff, dass Wilson in die Augen von Doktor T. J. Eckleburg blickte, die gerade eben blass und gewaltig aus der schwindenden Nacht aufgetaucht waren.
»Gott sieht alles«, wiederholte Wilson.
»Das ist eine Reklame«, beruhigte ihn Michaelis. Unwillkürlich wandte er sich vom Fenster ab und schaute wieder ins Zimmer. Wilson aber stand noch lange Zeit mit dem Gesicht dicht an der Fensterscheibe da und nickte in die Morgendämmerung hinein.
Um sechs Uhr war Michaelis am Ende seiner Kräfte und dankbar, als er draußen einen Wagen vorfahren hörte. Es war einer der Männer, die in der Nacht Wache gehalten und versprochen hatten wiederzukommen, und so machte Michaelis für sie drei ein Frühstück, das er und der andere Mann zu sich nahmen. Wilson hatte sich ein wenig beruhigt, und Michaelis ging nach Hause, um zu schlafen; als er vier Stunden später aufwachte und zur Werkstatt zurückeilte, war Wilson verschwunden.
Seine Spur – er ging die ganze Zeit zu Fuß – konnte später bis Port Roosevelt und von dort bis Gad’s Hill verfolgt werden, wo er sich ein Sandwich kaufte, das er nicht aß, und eine Tasse Kaffee trank. Wahrscheinlich war er müde und kam nur langsam voran, denn er erreichte Gad’s Hill erst gegen Mittag. Bis dahin war es nicht schwierig, herauszufinden, wann er wo gewesen war – ein paar Jungen hatten einen Mann gesehen, der sich »irgendwie verrückt benahm«, und ein paar Autofahrer berichteten, er hätte sie vom Straßenrand aus so komisch angestarrt. Dann verschwand er für drei Stunden von der Bildfläche. Aufgrund seiner von Michaelis zu Protokoll gegebenen Aussage, er werde »schon rauskriegen«, wer es gewesen sei, vermutete die Polizei, dass er in dieser Zeit die Werkstätten der Gegend abgeklappert und sich nach einem gelben Wagen erkundigt hatte. Andererseits meldete sich kein einziger Werkstattbesitzer, der dies bestätigt hätte – und vielleicht war Wilson auch eine einfachere, sicherere Methode eingefallen, in Erfahrung zu bringen, was er wissen wollte. Gegen halb drei tauchte er in West Egg auf, wo er jemanden nach dem Weg zu Gatsbys Haus fragte. Zu diesem Zeitpunkt kannte er also bereits Gatsbys Namen.
Um zwei Uhr zog Gatsby sich seinen Badeanzug an und gab dem Butler die Anweisung, falls ein Anruf komme, möge man ihn benachrichtigen, er sei unten am Pool. Er ging in die Garage, um die Luftmatratze zu holen, mit der seine Gäste sich den Sommer über vergnügt hatten, und der Chauffeur half ihm, sie aufzupumpen. Dann ordnete er an, der offene Wagen dürfe unter keinen Umständen herausgefahren werden – was merkwürdig war, weil der vordere rechte Kotflügel dringend repariert werden musste.
Gatsby schulterte die Matratze und machte sich auf den Weg zum Pool. Einmal blieb er stehen, um sie ein wenig zurechtzurücken, und der Chauffeur fragte ihn, ob er Hilfe brauche, doch Gatsby schüttelte den Kopf und verschwand einen Augenblick später zwischen den sich schon gelb färbenden Bäumen.
Es kam kein Anruf, doch der Butler verzichtete auf seinen Mittagsschlaf und wartete bis vier Uhr – bis es längst niemanden mehr gab, den er hätte benachrichtigen können. Ich halte es für möglich, dass Gatsby selber gar nicht mehr mit dem Anruf rechnete, und vielleicht war es ihm inzwischen auch egal. Für diesen Fall muss er sich gefühlt haben, als hätte er die alte, warme Welt verloren und einen hohen Preis dafür gezahlt, dass er zu lange mit einem einzigen Traum gelebt hatte. Er muss durch beängstigendes Blätterwerk zu einem fremden Himmel emporgeschaut und gezittert haben, als er sah, was für ein groteskes Ding eine Rose ist und wie brutal das Sonnenlicht auf das kaum gesprossene Gras fiel. Eine neue Welt, materiell, aber nicht real, voller
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