Der große Gatsby (German Edition)
Wolfshiems Name stand nicht im Telefonbuch. Der Butler gab mir die Adresse seines Büros am Broadway, und ich rief bei der Auskunft an, doch als ich die Nummer endlich in Erfahrung gebracht hatte, war es weit nach fünf, und niemand nahm mehr ab.
»Versuchen Sie’s noch einmal.«
»Ich habe es schon dreimal versucht.«
»Es ist sehr wichtig.«
»Tut mir leid. Ich fürchte, es ist niemand da.«
Ich ging wieder ins Wohnzimmer und dachte einen Moment lang, all die Leute, die von Berufs wegen da waren – und von denen es plötzlich wimmelte –, seien unangemeldete Besucher. Doch als sie das Laken zurückschlugen und Gatsby ungerührt betrachteten, hörte ich ihn in meinem Kopf erneut protestieren.
»Tun Sie mir einen Gefallen, alter Knabe, und holen Sie jemanden, der mir beisteht. Geben Sie sich Mühe. Allein verkrafte ich das hier nicht.«
Irgendjemand fing an, mir Fragen zu stellen, aber ich ließ ihn stehen, ging in den ersten Stock hinauf und durchsuchte, soweit er unverschlossen war, hastig Gatsbys Schreibtisch – Gatsby hatte mir nie ausdrücklich gesagt, dass seine Eltern nicht mehr lebten. Aber ich fand nichts – nur das Bild von Dan Cody, Andenken an vergessene Abenteuer, blickte starr von der Wand herab.
Am nächsten Morgen schickte ich den Butler mit einem Brief nach New York, in dem ich Wolfshiem um ein paar Auskünfte bat und ihn beschwor, mit dem nächsten Zug herzukommen. Letzteres erschien mir im Grunde überflüssig. Ich war überzeugt, er würde sich auf den Weg machen, sobald er in die Zeitungen schaute, so wie ich auch überzeugt war, dass noch vor zwölf Uhr mittags ein Telegramm von Daisy eintreffen würde. Doch es kam kein Telegramm, und auch Wolfshiem kam nicht – noch sonst irgendjemand, abgesehen von weiteren Polizisten und Fotografen und Journalisten. Als der Butler mir Wolfshiems Antwort brachte, keimte in mir eine Art von Groll, von trotziger Solidarität mit Gatsby gegen alle anderen.
Lieber Mr. Carraway. So einen furchtbaren Schock hab ich in meinem Leben noch nicht erlebt, ich kann’s gar nicht glauben, dass das wahr ist. Ein Wahnsinn, was der Mann da getan hat, sollte uns alle nachdenklich machen, ich kann jetzt nicht kommen, werde hier von wichtigen Geschäften festgehalten und will da im Moment in nichts reingezogen werden. Wenn ich ein bisschen später mal irgendwas tun kann, lassen Sie’s mich durch Edgar in einem Brief wissen. Ich versteh gar nichts mehr, wenn ich so was höre, und bin völlig zerstört und am Boden.
Ihr ergebener
Meyer Wolfshiem
Und darunter ein eiliger Zusatz:
Sagen Sie mir Bescheid wegen der Beerdigung etc., kenne überhaupt niemanden von seiner Familie.
Als an jenem Nachmittag das Telefon klingelte und die Vermittlung ein Ferngespräch aus Chicago ankündigte, dachte ich, das sei endlich Daisy. Doch dann meldete sich, sehr dünn und weit entfernt, eine Männerstimme.
»Hier spricht Slagle…«
»Ja?« Der Name sagte mir nichts.
»Schöne Bescherung, was? Is’ mein Telegramm angekommen?«
»Es sind gar keine Telegramme gekommen.«
»Parke Junior is’ aufgeflogen«, sagte er schnell. »Sie haben ihn geschnappt, als er gerade die Wertpapiere übern Schalter schob. Hatten keine fünf Minuten vorher ein Schreiben aus New York mit den Kennziffern auf dem Tisch gehabt. Was sagen Sie dazu, hm? In diesen Käffern ist man aber auch nie sicher…«
»Hallo!«, rief ich atemlos dazwischen. »Hören Sie – hier ist nicht Mr. Gatsby. Mr. Gatsby ist tot.«
Eine lange Pause am anderen Ende, gefolgt von einem Ausruf… Dann ein rasches Knacken, und die Verbindung war abgebrochen.
Am dritten Tag, glaube ich, kam ein Telegramm von einem gewissen Henry C. Gatz aus einer Stadt in Minnesota. Es enthielt nur die Nachricht, dass der Absender sich sofort auf den Weg machen werde und man die Beerdigung aufschieben möge, bis er da sei.
Es war Gatsbys Vater, ein ernster alter Mann, der in seiner Bestürzung völlig hilflos wirkte und sich zum Schutz gegen den warmen Septembertag in einen langen, billigen Ulster eingemummelt hatte. Seine Augen tränten vor lauter Aufregung in einem fort, und als ich ihm seine Tasche und seinen Regenschirm abnahm, begann er so unausgesetzt an seinem spärlichen grauen Bart zu zupfen, dass ich Mühe hatte, ihm den Mantel auszuziehen. Er stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch, deshalb führte ich ihn ins Musikzimmer, drückte ihn in einen Sessel und ließ etwas zu essen kommen. Aber er wollte nichts essen, und das Glas Milch
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