Der grosse Horizont
angenehm ab.
Auf der Straße kam ihm später das räumliche Sehen wie eine neue Entdeckung vor; er genoß die Tiefe hinter den Gegenständen, als habe er sie soeben für sich erfunden. Der Verkehr, der auf ihn zukam, schien sich von einer Leinwand auf ihn zu stürzen. Einen Moment zweifelte er daran, ob nicht die Fahrzeuge, die ihm entgegenkamen, durch ihn durchfahren würden, als sei er körperlos und könne durch nichts verletzt werden. Erst beim Weintrinken in einer Raststätte konnte er wieder den Gesprächen zuhören, den Worten, die O’Maley sprach, und Friederike. Auf dem Tisch stand ein weißer Porzellanaschenbecher mit aufgemalten roten Kirschen und grünen Blättern und zartrosa Kirschblüten. O’Maley wollte in diesem Augenblick von ihm wissen, ob er sich über irgend etwas sorge.
»Nein«, antwortete Haid. Es war erstaunlich, wie die Angst bei der Erinnerung an Carson von ihm Besitz ergriff. Er blickte nicht zu O’Maley auf, sondern betrachtete nur den Aschenbecher. Friederike griff nach ihrem Glas und berührte dabei flüchtig seine Hand. Haid verhielt sich, als habe er diese Berührung nicht bemerkt, obwohl er sie auf sich bezog.
12
Als O’Maley vorschlug, Friederike zu besuchen, fühlte er sich ein wenig erleichtert. Unterwegs hielten sie vor einem Supermarkt. Einige Nachtwandler spazierten zwischen den aufgehäuften Waren herum. Immer wenn Haid eine Masse von Waren auf einem Haufen sah, konnte er für den Bruchteil eines Augenblicks nicht begreifen, warum man dafür bezahlen mußte. Er verlief sich zwischen den Regalen und stieß auf einen Betrunkenen, der sich, angelehnt an ein hohes Regal mit Toiletteartikeln, übergab. Er stierte Haid mit glasigen, bösen Augen an und Haid machte kehrt. Der Betrunkene blickte ihm nach, rief ihm etwas zu und zeigte ihm dann, daß er dabei war zu stehlen. Er rief Haid nochmals an, um ihn darauf hinzuweisen, daß er im Begriff war, einen Gegenstand aus dem Regal zu nehmen. Haid nickte und wollte weitergehen, aber der Betrunkene kam ihm nach, mit einer Tube Zahnpasta in der Hand, die er zwar unsicher tastend, aber voll innerer Ruhe, in seine Rocktasche steckte. Dann griff er nach einer Konserve mit Bohnen und steckte sie in die Brusttasche. Er ließ Haid nicht aus den Augen.
Haid machte, daß er wegkam, befand sich aber plötzlich wieder allein mit dem Betrunkenen in einem der schmalen Gänge zwischen den Regalen. Der Betrunkene taumelte bei seinem nächsten Schritt, hielt sich an einem schwankenden Regal fest und steckte eine Dose Körpercreme ein. Dann griff er nach einer zweiten Dose und hielt sie Haid hin. In der Geste war nichts von Freundlichkeit oder schlechtem Gewissen, vielmehr war es eine befehlende Geste, die ihn zwingen sollte, ihn zu seinem Komplizen zu machen. Haid trat sofort in den Gang zurück und sah gerade noch, wie der Betrunkene die Dose zu Boden fallen ließ; sie fiel klappernd zu Boden, rollte und kippte um. Gleich darauf fand Haid den Ausgang und das geparkte Auto, vor dem O’Maley stand.
»Ist was?« fragte O’Maley.
»Nein.« Es erfüllte Haid mit einer Art von Stolz, über den Zwischenfall zu schweigen.
13
Was ist die Konsequenz davon, daß ich das alles sehe, fragte sich Haid. Was bedeutete es für ihn, jeden Tag immer mehr zu sehen und immer fassungsloser zu werden. Und was erwartete er sich vom Sehen vom Fühlen … – was hieß das: Erfahrungen machen? Er wünschte sich, ruhiger zu werden und immer mehr zu verstehen. Vielleicht konnte er immer mehr verstehen und dabei immer ruhiger werden, aber vielleicht würde man immer unruhiger werden, je mehr man verstand. Haid saß mit geschlossenen Augen im Auto und überließ sich dem Gefühl zu fahren.
14
Friederike lebte in einem Bungalow am Rande von Beverly Hills. Die Auffahrt zu ihrem kleinen Holzhaus war so schmal, daß Haid beim Aussteigen in die Grünpflanzen entlang der Auffahrt trat. Kapra hatte seine Hand flüchtig auf Friederikes Gesäß gelegt. Er folgte Friederike in die Küche, während Haid sich im Zimmer vor der Küche hinsetzte und auf den großen, schlafenden Hund in der Ecke schaute. Als O’Maley sagte, dies sei ein WEIMARER Hund, dachte Haid an Goethe und dessen Gesicht im Alter. O’Maley beugte sich über den Schreibtisch. Der Hund in der Ecke zuckte unruhig. »Was halten Sie von Friederike?«, fragte O’Maley und blickte dabei auf eine kleine ägyptische Steinplastik, die er in den Händen hielt und nach der
Weitere Kostenlose Bücher