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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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Reklametafeln und unter dem tief grünen Himmel dahinfuhr, spürte er zum ersten Mal, wieviel Platz in ihm war, um das Leben in sich aufzunehmen.
 
 
9
     
     
    Im Haus Kapras bat Haid Kim um eine Aspirintablette. Die Hunde streunten freundlich um ihn herum, beobachteten ihn, als er die Tablette mit Wasser schluckte, ließen sich von ihm streicheln und legten sich unter den Tisch. O’Maley saß vor der Küchentür, rauchte eine Zigarette und schwieg. Manchmal warf er einen Blick auf Haid oder Kapra, räusperte sich und machte weiter sein ausdrucksloses Gesicht. Kapra stellte eine Tasse dampfenden Tees vor Haid, nahm ihm gegenüber Platz und starrte ihn an. Während er Haid nicht aus den Augen ließ, begann er zu erzählen, daß er in der Lage sei, mit jedem Auge einzeln wahrzunehmen. Dies habe zwar ein verschwommenes Bild zur Folge, ermögliche ihm aber andererseits, tiefer zu sehen. Haid antwortete, daß er den Eindruck habe, hypnotisiert zu werden, wenn Kapra ihn anstarre, ihm falle auf, daß er ihm fortwährend in die Augen blicke, wenn er ihm zuhöre oder mit ihm spreche. Kapra erklärte, daß Haid dies nur so vorkomme. Er kam auf die »Teachings of Don Juan« zu sprechen. In diesem Buch seien die magische und die visuelle Welt von einem alten Mexikaner wahlweise aufrufbar. Mit Hilfe der magischen Sehweise gelänge es diesem zum Beispiel, feine Fäden zu erkennen, die von der Magenzone jedes Menschen ausgingen und dorthin führten, womit der betreffende Mensch in enger Beziehung stünde. O’Maley lachte. Kim machte ein ernstes Gesicht und sagte, daß sie das schön fände. Sie fragte Haid, wohin die Fäden aus seinem Körper führten. Unwillkürlich empfand Haid Angst, von Kapra durchschaut worden zu sein. Er dachte dabei an keine bestimmte Situation, in der Kapra ihn durchschaut hatte, sondern an etwas Vollständiges, als habe er ihn durchdrungen, als wisse er von ihm soviel, daß seine Worte nur als Hinweise galten, wie weit er sich verstellte. Es war, als säße ein Verdächtiger vor einem Untersuchungsrichter, der sämtliche Details über das Verbrechen des Verdächtigen ermittelt hat, sich mit dem Verdächtigen über das Verbrechen unterhält, ihn aber im unklaren über sein Wissen läßt. Haid dachte auch an Carson und daran, daß einer dieser geheimen Fäden zur Wohnung Mehrings, in das dunkle Schlafzimmer führte, trank einen Schluck Tee und antwortete, daß einer seiner Fäden zu Kim führe. Kim lehnte sich zurück und lächelte ihm zu.
     
     
10
     
     
    Es war schon dunkel, als sich Haid mit Kapra und O’Maley in das Auto setzte, um auf Vorschlag Kapras ein deutsches Mädchen in Hollywood zu besuchen. Die Reklametafeln versetzten Haid wieder in einen schläfrigen, hellhörigen Zustand. Als er die Postkästen aus Blech mit den großen aufgemalten Nummern vor den Hauseingängen sah, erinnerte er sich an Zeichnungen in Comic-Heften. Der Wagen bog zum Sunset-Strip ab und hielt vor dem Chinese Theatre. Haid sah das Mädchen unter dem Vordach warten. Sie fror und hielt den Mantel vor der Brust zusammen. Ihr Gesicht war schmal und fein, das blonde Haar fiel bis über die Schultern, und ein kleiner Windstoß legte ein Ohr frei, an dem ein goldener Ring hing. Haid sah zu, wie Kapra sie umarmte und auf die Wange küßte. Beim Gehen betrachtete Haid abwechselnd den Mosaikboden und das Gesicht des Mädchens. Er las die Namen von Filmschauspielern über Sternfiguren, in deren Mitte aus Messing die Abbildung einer Filmkamera eingelegt war und warf gleich darauf einen Blick auf die vollen Lippen und die leichtgeschwungene Nase des Mädchens. Sie erinnerten ihn an eine Jugendliebe, an Sinnlichkeit und Verwirrtheit, er blickte wieder zu Boden und las einen Namen auf dem Straßenpflaster und dachte an Filme, die er gesehen hatte.
     
     
11
     
     
    Wie immer, wenn Haid in einer Kinovorhalle wartete, überkam ihn eine schwer erklärbare Niedergeschlagenheit. Er fühlte diese Niedergeschlagenheit so lange, bis ihn ein Film gefangen nahm. Wie oft war er an Regentagen vor einem Kino wartend auf- und abgegangen, bis die Zuschauer der vorhergehenden Vorstellung aus dem Saal gekommen waren, wie oft hatte er sich mit nassen Hosenbeinen auf einen Kippsessel gesetzt, in den muffigen Gestank verbrauchter Luft, und hatte bei den langweiligen Reklamen deprimiert auf den Anfang des Filmes gewartet. Erst wenn das Licht völlig erlosch, wurde ihm leichter …
    Die plastischen Bilder des dreidimensionalen Films lenkten Haid

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