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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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»Nachsommer« stünde für das ganze Werk.
    Friederike bat ihn, etwas aus dem Werk zu zitieren, aber Haid wußte nichts auswendig. Er sagte, er habe sich nur einige Sätze gemerkt. O’Maley, der den Namen Stifter noch nie gehört hatte, bat ihn darum, die Sätze, die er auswendig wisse, zu zitieren. Haid dachte nach und sagte, daß ihm im Augenblick kein Satz einfalle. Friederike lehnte in einem bequemen Stuhl, ihr Haar fiel auf die gestreifte Leinenbluse und ihre Hände lagen entspannt auf den Armlehnen. Haid blickte in ihre Augen. Friederike erwiderte seinen Blick, als habe sie darauf gewartet, daß Haid ihr in die Augen blicke. Haid beugte sich vor und legte seine Hand auf ihre, nahm dann eine Zigarette heraus, zündete sie an und ließ sich zurück in den Sessel fallen.
    O’Maley stellte jetzt fest, daß keine Zigaretten mehr im Hause waren, und Kapra erklärte sich bereit, mit Haid zu einem Automaten zu fahren.
    Als Haid aus dem Haus trat, sah er vor der Eingangstür weiße, blühende Orchideen. Die Pflanzen, in die er beim Aussteigen aus dem Auto getreten war, erkannte er als tief grünes Efeu. Sie machten auf ihn im Morgenlicht den Eindruck von Unterwasserpflanzen. Der Tag war klar und hell. Während sie auf die Straße traten und den frühen Morgen betrachteten, sahen sie einen langsam vorbeigleitenden Chrysler, der aus den Bergen kommen mußte, denn auf seinem Dach lag Schnee. Sofort spürte Haid seine eiskalten Hände und Füße. Ihm fiel das Gespräch mit Kapra ein, in dem Kapra vom Seelenleben der Pflanzen gesprochen hatte. Die Temperaturveränderung in seinen Händen und Füßen war ihm erst durch den Schnee auf dem Dach des Chryslers bewußt geworden. Er blickte auf den Hügel auf der anderen Seite der Straße. Der Hügel war von dichtem Laubwerk bewachsen, dazwischen ragten die Dächer niedriger Holzhäuser hervor. Vor den Häusern standen verrottete Postkästen, nur einer war frisch gestrichen. Die schwarze Farbe war über den Holzpfosten geronnen, auf dem der Postkasten befestigt war und hatte dort eine schwarze Spur hinterlassen. Der Postkasten gehörte zu einem Haus, in dessen Garten sich ein Baum mit kleinen Zitronen befand. Der Himmel war blaßblau und freundlich. Haid konnte sich vorstellen, daß Philipp Marlowe das Haus mit dem Zitronenbaum nicht aus den Augen ließ. Nichts würde sich regen. Auf einmal würde ein Personenwagen die Straße herunterkommen. Der Personenwagen würde Schnee auf dem Dachhaben und zum Haus mit dem Zitronenbaum abbiegen. Dann würde Marlowe einen grauhaarigen Herrn aussteigen sehen, der einen Koffer aus dem Kofferraum hob und diesen ins Haus trug. Der grauhaarige Herr würde wieder aus dem Haus kommen, den Kofferraumdeckel schließen und davonfahren. Haid konnte sich Zusammenhänge dichten: Was sich in dem Koffer befand, ob das Haus leer war, wer der Mann war, was er damit bezweckte, daß er am frühen Morgen einen Koffer in ein Haus stellte … Für Marlowe würde diese Beobachtung voller Zusammenhänge sein. Chandler ließ ihn Ereignisse und Dinge sehen und für ihn bedeutungsvoll sein, während er die Bedeutung dem Leser erst im Nachhinein erklärte. Dann fiel Haid auf, wie wild und unsystematisch die Häuser über den Hügel verteilt waren, und es fiel ihm Kapras Bemerkung über die anarchische Atmosphäre ein. Sicher war es diese anarchische Atmosphäre, die ihn so oft an Chandler denken ließ. Selbst die Schönheit dieser Landschaft hatte etwas Anarchisches. Wenn er die Straßen, die Häuser, die Autos, die Farbigen, die Geschäfte, die Bars, die Feuerleitern und selbst diese wildbewachsenen Wohnviertel betrachtete, war seine Phantasie plötzlich voller Geschichten. Jede Wahrnehmung war mit Phantasiegeschichten verbunden, die gleichzeitig mit dem Sehen abspulten. War nicht auch Carsons Tod eine real gewordene Phantasiegeschichte? Und die Existenz O’Maleys? Beim Gedanken an Carson setzte er sich in das Auto. Sie fuhren bis zu einer Tankstelle, stiegen aus und warfen Kleingeld in einen Zigarettenautomaten. Von weitem konnte Haid sehen, daß der Tankwart an der Zapfsäule mit dem Fahrer eines Autos in einen Streit verwickelt war. Das Seitenfenster des Autos war geöffnet und der Tankwart lief dem anfahrenden Auto ein paar Schritte nach, drehte sich um, holte Bleistift und Papier aus der Brusttasche und ging in sein Büro, um zu telefonieren.
    Haid fragte, was sie unternehmen sollten. »Nichts«, antwortete Kapra. Er setzte sich zurück ins Auto, zündete sich

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