Der grosse Horizont
betrunken«, sagte Christine, »wir haben uns gestritten.«
Haid schwieg. Er ließ seine Hand auf dem gelben Eisengeländer mitlaufen. Vor dem Eingang hing ein braunes Schild mit unleserlichen Buchstaben. »Ich werde in ein Hotel ziehen«, sagte er. Er warf die durchlochte Messingmünze, die Christine für ihn gelöst hatte, in den Schlitz auf dem Drehkreuz. »Das ist nicht notwendig«, sagte Christine. Die Station war schmutzig und schlecht beleuchtet. Neger lungerten herum. Haid blickte ihnen nicht in das Gesicht. Er erfand einen Traum, den er Christine erzählte. »Ich träumte von meinem Vater«, sagte er. »Ich war ein Kind und mein Vater befahl mir zu stehlen. Ich mußte auf einem Marktplatz eine Kiste Tomaten stehlen. Die Kiste war mir jedoch zu schwer und ich ließ sie, kaum daß ich sie aufgehoben hatte, fallen. Daraufhin verfolgte mich der Mann, der hinter der Marktbude stand. Mein Vater war verschwunden. Ich stand plötzlich vor einer Meeresklippe und kam nicht mehr weiter. So sehr ich mich auch anstrengte, kam ich nicht weiter. Ich stieß mich ab und schwebte langsam hinunter.«
»Auch ich habe geträumt«, sagte Christine. »Ich habe von dir geträumt.«
Die Wände in der Station waren weiß gekachelt. »Etwas Angenehmes?« fragte Haid. »Ja, etwas Angenehmes«, antwortete Christine. Haid fragte sich, ob Christine tatsächlich geträumt hatte. Vielleicht hatte auch sie nur einen Traum für ihn erfunden. Die Bahn kam dröhnend angefahren. Aus den beleuchteten Waggons glotzten Neger mit ausdruckslosen Gesichtern durch die Fensterscheiben wie Fische aus einem Aquarium. Einer trug einen schwarzen Hut und musterte Haid unverblümt, als er einstieg. Haid hielt sich an einem Aluminiumgriff unter der Decke fest. Die Menschen saßen schweigend und isoliert nebeneinander. Ein weißer Jugendlicher spielte obszön mit der Antenne eines Kofferradios.
Haids Blick schweifte über die lange Reihe der stummen Zeitungsleser. Es kam ihm für einen kurzen Augenblick vor, als lebten die Menschen gar nicht, als ließen sie sich das Leben im Kino, in der Zeitung, in Büchern, im Fernsehen nur vorspielen und bezogen dann von Fremden Erlebtes und Erfundenes in ihr Leben ein, als hätten sie es selbst erlebt. Irgend jemand hatte die Wände der Untergrundbahn mit blauer, grüner und roter Farbe beschmiert, WENN SIE UNSCHULDIG SIND, SCHLAGT SIE, BIS SIE SCHULDIG WERDEN, las Haid. Sie erzeugen Schuldgefühle und leben ein Leben von Schuldigen, dachte er weiter. Sie wissen nicht, weshalb sie schuldig sind, und sie fragen auch nicht danach. Sie fühlen sich schuldig und gehorchen. Und nur weil sie sich schuldig fühlen, leben sie dieses Leben des täglichen Stumpfsinnes. Dieses Leben funktioniert nur, weil die Menschen sich schuldig fühlen. Seine Gedanken kamen auf Carson und O’Maley, und er spürte wieder Verzweiflung in sich entstehen. Plötzlich fuhr ein Schwarzer ohne Beine auf einem Holzgestell mit Rädern durch den Waggon, in einer Hand hielt er eine Blechbüchse, mit der er rasselte. Er fuhr an Haid vorbei, und Haid bemerkte, daß das Gesicht des Krüppels gerade bis zu seinem Geschlecht reichte.
Niemand beachtete den Krüppel und niemand gab ihm etwas. Haid selbst war zu feige und verunsichert gewesen, um ihm etwas zu geben. Er sah ihm nach, wie er im muffigen Untergrundbahnwaggon mit rasselnder Büchse dahinkroch, zwischen den Fahrgästen mit abwesenden Gesichtern, als seien sie Tiere, die mit offenen Augen schlafen, jederzeit bereit, sich zu verteidigen oder zu fliehen, voll Argwohn und Mißtrauen dem anderen gegenüber. Haid spürte eine neue Angst in sich, sie hatte etwas von Verfolgungswahn und etwas von Melancholie. Er dachte daran, daß er diese Angst bis in die Zahnwurzeln fühlte. Er wußte, daß Christine nichts von seiner Angst wissen konnte, aber er schämte sich vor ihr. Er spürte den Zahnstein an der Innenseite der Vorderzähne mit der Zungenspitze. Er bemerkte, daß er die Daumen in der Faust versteckt hielt. Er drehte sich zu Christine hin, die automatisch einen stumpfsinnigen Gesichtsausdruck angenommen hatte. Aber es war etwas in ihrem Gesicht, das er liebte. Er spürte diesen Gedanken wie einen Schmerz. Er wollte sich nicht mehr verlieben. Er wollte sich nie mehr verlieben. Es war ihm, als müßte er sich freiwillig dem Wahnsinn aussetzen. Er war wahnsinnig gewesen, als er seine Frau kennengelernt hatte, er hatte sie geheiratet, der Wahnsinn war langsam verschwunden, und als sie ihm gesagt hatte,
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