Der grosse Horizont
gewesen, einen Beischlaf zu vollziehen, und immer dann hatte er seine Angst vor dem Versagen, seine Verstellung, seine verlogene Verliebtheit schon im Vorhinein mit großem Unbehagen gespürt. Haid war Christine wieder in das Wohnzimmer gefolgt, sie hatte ihm einen warmen Blick zugeworfen, und als sie sein ernstes Gesicht gesehen hatte, hatte sie ihm ihr Gesicht zugewandt und ihn angelächelt. Sie hatte ihn gefragt, ob er traurig sei. Haid hatte geantwortet, was ihn so verändere, sei eine Benommenheit. Er hatte sich in dem schwarzen Holzstuhl mit der hohen Lehne zurückgelehnt, und das Zimmer mit der tomatenroten Tapete, dem Kamin aus weißem Stein und den vielen Bildern hatte ihn zu stören begonnen.
6
Christine gab ihm den Haustorschlüssel, und Haid machte sich auf die Suche nach einer Bar. An Christines Gesicht zu denken, tat ihm weh. Aber er mißtraute sich selbst: Er wußte, daß er Liebesaffären bald als Belastung empfand. Andererseits konnte er diesmal versuchen, sich nicht zu verstellen. Aber hatte er überhaupt Lust, mit ihr zu schlafen? Es war ihm jetzt, als habe er es oft getan, um sich vor sich selbst rechtfertigen zu können. Ja, es war nur eine Rechtfertigung vor sich selbst gewesen. Aber das war nicht das Wesentliche gewesen. Das Wesentliche war, wie sehr er sich selbst aufgegeben hatte, um eine Frau für sich zu gewinnen. Er hatte geglaubt, stets seine Intelligenz vorzeigen zu müssen, weil er unter einem Zwang litt, man erwartete dies von ihm. Obwohl er wußte, daß das nicht stimmte, war der Zwang stark genug gewesen, um ihn zu beherrschen. Auch war es vorgekommen, daß er an jemanden gedacht hatte, von dem er wußte, daß er Frauen imponierte, und daß er selbst diesen zu imitieren begonnen hatte. Oder er war fröhlich gewesen, wie er geglaubt hatte, daß die Frau es wünschte, ihn zu sehen. Nur wenn er betrunken gewesen war, war es ihm leichter gefallen, so zu sein, wie er war. Manchmal jedoch verstärkte gerade die Betrunkenheit seine gespielte Fröhlichkeit oder Nachdenklichkeit oder Verliebtheit und ließ ihn seine Verstellung durchhalten, auch wenn er sich lächerlich machte. Eine Zeitlang schon zog Haid es vor, zu schweigen, wenn er die Absicht hatte, eine Frau für sich zu gewinnen, womit er zwar nahezu nie Erfolg gehabt hatte, was ihn aber auf eine bestimmte Weise befriedigte, da er annahm, durch sein Schweigen Aufmerksamkeit auf sich gelenkt zu haben. Diese Aufmerksamkeit gedachte er in einer fernen Zukunft auszunützen. Auch fiel ihm bei diesen Überlegungen ein, daß er in Gesellschaft gerne den Gütigen, Verständnisvollen und Sanften spielte, und es ekelte ihn jetzt davor. Wenn er sich an einzelne Menschen erinnerte, welchen er seine Rollen vorgespielt hatte, schämte er sich. Aber er war um nichts besser geworden. Es fiel ihm nur leichter, sich dies zu überlegen, weil es ihm vorkam, daß er von sich ganz weit entfernt war, nein, weil er überhaupt den Eindruck hatte, sein eigener Doppelgänger zu sein. Er erschrak bei dieser Überlegung und blickte vom Asphalt auf. Ein hoher, weißblauer Wäschereiwagen parkte am Straßenrand. Am Steuer saß ein Neger und gähnte. Die Häuser waren groß und schmutzig, dunkel und angsterregend, die Gehsteige vom Papierfetzen und Glasscherben übersät. Hinter dem nächsten Block kamen ihm drei Polizisten entgegen, die ihn mißtrauisch beobachteten. Für Philipp Marlowe wäre dies der Ort gewesen, um einen Toten zu finden. Aber diese tristen Blöcke hatten nichts Poetisches an sich. Er spürte ihre Wirklichkeit und die Grausamkeit dieser Wirklichkeit wie ein schweres Gewicht in seinem Kopf. Auch dachte er daran, daß Marlowe zu Frauen immer nur unerfüllte Beziehungen hatte, so als liebte er sie zu sehr, um sie mit seiner Liebe und seinen Sehnsüchten belasten zu wollen. Er fand eine Bar, vor der auf der Straße ein schwarzer Wagenheber aus schwerem Eisen lag. Niemand beachtete den Wagenheber. Es war, als gehörte dieser Wagenheber zur Straße. Niemand verband eine Geschichte damit, weil es gefährlich war, eine Geschichte damit zu verbinden. Haid betrachtete ihn von der Bar aus, während er Whisky trank und ab und zu einen Blick auf den Fernsehapparat warf, auf dem ein Basketballspiel ablief. Das Publikum johlte und pfiff, und Haid fand es merkwürdig, daß er dabei den Wagenheber auf der Fahrbahn betrachtete. Die Menschen nahmen alles hin. Sie verharrten an ihren Plätzen im Unglück, in der Armut, in der Verzweiflung. Sie
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