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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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daß sie ihn betrog und daß sie ihn verlassen werde, war der Wahnsinn wieder ausgebrochen. Er hatte Liebe nur als Schmerz erfahren. Die Zeit hatte sich wie ein raffiniertes Folterinstrument gegen ihn gewandt. Wenn er mit seiner Frau zusammengewesen war, hatte er gespürt, wie die Zeit sich rasch und unwiederbringlich verflüchtigt hatte, und wenn sie voneinander getrennt waren, hatte er nichts als Sehnsucht und Trauer empfunden. Die Erinnerungen waren das Furchtbarste. Es schien ihm oft, als gäbe es nur furchtbare Erinnerungen. Eine angenehme Erinnerung erfüllte ihn mit Sehnsucht und eine unangenehme ließ ihn alles nochmals empfinden, was er einmal empfunden hatte. Er war sich unsicher, ob er, wenn er verliebt war, sich fremd oder näher war als sonst. Vielleicht war das Sichfremdfühlen nur deshalb so stark, weil es sich um eine neue Erfahrung handelte, die ihn sich selbst überließ. Vermutlich war diese neue Erfahrung auch die Ursache für die Verwirrung, die ihn befiel, ja, wahrscheinlich war dieses Sichfremdfühlen in Wirklichkeit ein Sichnahesein. Auf einmal hatte er den Wunsch, Christine zu zeigen, daß er an sie dachte. Er streichelte über ihr Haar, und sie blickte lächelnd zu ihm auf. Dann sah Haid ihre Hände, die lackierten Fingernägel, die weichen Handballen, die schmalen Fingergelenke und er wußte, daß er sich verlieben würde.
     
     
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    Sie stiegen mehrmals um, und jedesmal befanden sich in der Subway mehr Farbige als Weiße. Die Weißen waren ärmlich gekleidet, mit zu kurzen Hosenstulpen, so daß man die Socken sah. Einer trug eine Brille in seinem alten versoffenen Gesicht, seine wenigen, kurzgeschnittenen, grauen Haare waren cholerisch gesträubt. Er lehnte an der Wand und hielt eine Hand auf der Hose über seinem Glied. Christine wagte nicht, zu ihm hinzusehen, sie starrte unbeteiligt zum Fenster hinaus und sprach auch nicht mit Haid. Auf Haid jedoch übte der alte Mann eine eigenartige Faszination aus. Haid glaubte nicht stark genug zu sein, um zum Trinker zu werden. Er kam ganz ungewollt auf diesen Gedanken. Um zum Trinker zu werden, fehlte ihm die Kraft. Er würde sein Leben ändern müssen und dazu fühlte er sich nicht in der Lage. Der alte Mann schubste sich von der Wand weg, taumelte ein Stück durch die Untergrundbahn und stellte sich hinter ein junges Negermädchen mit einem Kopftuch. Er stand ganz nahe hinter dem Mädchen, so daß sein Unterkörper an ihren Hintern stieß. Die Untergrundbahn rüttelte, und der Alte schien es auf dieses Rütteln angelegt zu haben. Das Mädchen blickte mit unbewegtem Gesicht aus dem Fenster und verhielt sich so, als merkte sie nicht, was vorging. Sie gab vor, ihren Körper nicht zu fühlen. An der nächsten Station riß sie sich los und sprang aus dem Waggon. Der Alte schnaufte geräuschvoll durch die Nase und begann wieder mit der Hand zu seinem Glied zu fahren.
     
     
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    Als sie an der 79. Straße ausstiegen, fiel Haid wieder das gelbe Stiegengeländer auf. Fluten gelber Taxis überschwemmten die Straßen. Zwei Neger trugen gelbe Plastiksäcke vorbei. Haid erzählte Christine von dem Alten in der Untergrundbahn, während er zwei Arbeiter mit gelben Helmen auf einem Baugerüst sah. Christine antwortete, sie habe einmal eine Frau in der Untergrundbahn gesehen, die anstelle von Schuhen Handschuhe auf den Füßen getragen habe. Ein andermal habe sie beim Milchholen einen Mann auf Rollschuhen gesehen, der ein weißes Kleid getragen habe, auf dem hunderte kleine Glöckchen befestigt gewesen seien.
     
     
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    Vor der Universität hing eine große amerikanische Flagge. Fahrräder lehnten an der schmutzigbraunen Mauer. Haid wartete im 8. Stock, bis Christine mit ihrem Professor, einem dicken, jüdischen Germanisten, gesprochen hatte. Er rauchte eine Zigarette und ging auf dem Gang spazieren. An den Wänden, an welchen man das Muster der rechteckigen Ziegelsteine unter dem Anstrich erkennen konnte, klebten Büschel von farbigen Anschlagzetteln, die Vorlesungen, offene Stellen, Verluste, usf. vermeldeten. Eine weißgekleidete Negerin schob einen Wagen mit Glasflaschen voll Urinproben vorbei; die Flaschenöffnungen waren mit Silberfolien abgedeckt. Der Anblick hatte etwas seltsam Surrealistisches an sich. Als er dann mit Christine die acht Stockwerke zu Fuß hinunterging und in den Ecken der Gänge dicke rotgestrichene Rohre und rote Feuermelder sah, hatte er dieselben Empfindungen wie beim Anblick der durch Silberfolie

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