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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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abgedeckten Urinproben. Vor dem Universitätsgebäude rollten Arbeiter in khakifarbener Kleidung einen gelben Schlauch auf. Er war ganz seinen Augen ausgeliefert. Christine erzählte ihm irgend etwas, aber Haid hörte ihr nicht zu. Die Sonne schien. Er dachte daran, daß man ihm erzählt hatte, in New York scheine nie die Sonne, und er mußte lachen. Christine, die sein Lachen in Zusammenhang mit dem brachte, worüber sie gesprochen hatte, zog sein Gesicht im Gehen zu sich hinunter und küßte ihn auf die Wange. Haid legte einen Arm um Christines Schulter und drückte sie an sich. Gleich darauf ließ er sie los, steckte seine Hände ein und ging wieder neben ihr her. Er spürte, daß er ihr durch Zurückhaltung näherkommen konnte als dadurch, daß er sich seine Gefühle anmerken ließ. In der 5 th Avenue verließ ihn Christine vor einem Friseurgeschäft. Sie winkte ihm, bevor sie das Geschäft betrat, zu, und Haid schlenderte ziellos weiter. Im nächsten Augenblick stand Christine wieder neben ihm und umarmte ihn. »Ich habe ganz vergessen, dir auszurichten, daß Gertrud in New York ist.« Gertrud war Lektorin bei einem österreichischen Verlag. Sie war lange Jahre die Freundin Christines gewesen, und Haid hatte sie immer gemocht. Eine Zeitlang hatte er ihr Briefe geschrieben, als sie nach Salzburg gezogen war und die Stellung im Verlag angenommen hatte, dann waren die Briefe seltener geworden, aber er hatte stets mit einem Gefühl großer Zuneigung an sie gedacht. Er ließ sich die Adresse geben und von Christine den Weg beschreiben. Dann schlenderte er die 5 th Avenue hinunter. Carson und Mehring schienen ihm ganz weit von seinem Leben entfernt. Er mußte vergessen lernen. Er hatte Schwierigkeiten zu vergessen, aber er wollte es lernen. Er wollte vergessen lernen, wie eine literarische Figur vergessen konnte. Philipp Marlowe erinnerte sich nie an vergangene Fälle. Nie erinnerte sich Philipp Marlowe an etwas, was in einem anderen Buch bereits beschrieben worden war. Haid spazierte verträumt die 5 th Avenue hinunter und bezog alles, was er sah, in seine Phantasie ein: Die Marmorportale über den Schmuck-, Glas- und Porzellangeschäften, die Vordächer aus Kunststoff und Leinen über Restaurants und Hotels, uniformierte Portiers, den Eislaufplatz im Rockefeller Center, das Glashaus mit Blumen, vor dem eine Dudelsackkapelle in Kilts spielte. Er konnte jede Geschichte mühelos mit Marlowe in Zusammenhang bringen. Er schreckte aus seinem Traum auf, als ein schwarzer Lastkraftwagenfahrer an einer Tankstelle die Wagentür so heftig aufriß, daß er ihn beinahe damit umriß. Zu seiner Überraschung entschuldigte sich der Fahrer. Gleich darauf begriff er, warum der Neger sich entschuldigt hatte, denn er sah an der nächsten Kreuzung einen Polizisten auf einem Pferd, der aufmerksam zu ihnen herüberblickte.
     
     
13
     
     
    Zu Mittag brach er den Spaziergang ab, setzte sich in die Fensternische eines Restaurants am Times Square und dachte über Christine nach. Jakubowski war vermutlich eifersüchtig auf ihn gewesen, aber interessierte ihn das überhaupt? Er bemerkte, daß es ihn nur so weit interessierte, als es ihm Schwierigkeiten bereiten konnte. Auch die Gefühle Mehring gegenüber hatten sich darauf beschränkt, keine Schwierigkeiten mit ihm zu bekommen. Zum ersten Mal und für einen kurzen Augenblick bereitete ihm der Gedanke, mit Carsons Tod in Zusammenhang gebracht zu werden, ein verrücktes Gefühl der Freude. Auch, daß O’Maley ihn womöglich verfolgte, erschreckte ihn nicht. Er glaubte, ihm jetzt gewachsen zu sein, er hatte keine Angst mehr vor ihm. Zuerst aber mußte O’Maley ihn finden, in diesem Gewühl gelber Taxis, in diesem Gewimmel von prostatakranken Pensionisten, jüdischen Bankbeamten, geschlechtskranken Negern, Huren, Stenotypistinnen, Polizisten, Frauen in Pelzmänteln, Arbeitslosen, Kellnern, Köchen, debilen Kindermädchen, schwindelfreien Fensterputzern und abgetakelten Schauspielern. Er blickte den Menschen, die am Restaurant vorbeigingen, nach und stellte sich ihre Berufe und ihre Krankheiten vor, ihre Geheimnisse und ihre Wünsche, und die endlose Flut der Menschenwelle machte ihn ruhiger. Auf der anderen Straßenseite sah er eine Reklametafel für die Zigarettenmarke WINSTON. A US dem Mund des Rauchers strömten in rhythmischen Abständen Dampfwolken, nachdem zuvor ein Mechanismus eine Hand mit einer Winston-Zigarette zum Mund des Rauchers geführt hatte. Im Geist sah Haid sich hinter dem

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