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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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ganze Buchstaben der Reklameaufschriften verblaßt oder mitabgefallen waren. Haid hatte plötzlich das Gefühl, daß O’Maley sich in Gefahr befand. Er blickte sich nach Murphy um, der mit dem Schirm in der Hand auf dem Gehsteig stand. Aber er war sich nicht im klaren, ob dieses Gefühl nicht von seiner eigenen Unsicherheit erzeugt worden war. Dann fühlte er wieder das starke Bedürfnis in sich, keine Angst mehr zu empfinden. Im selben Augenblick ließ der junge Bursche den Plastiksack fallen und eine Milchflasche zersplitterte auf dem Gehsteig. Niemand schenkte dem Zwischenfall Beachtung, auch der junge Bursche hob einfach den Plastiksack wieder auf und ging davon. Die kleinen Lachen Milch am Boden zogen Haid jedoch an und schienen ihm wie Hinweise darauf, daß mit wenigen Schritten – indem er dem jungen Burschen folgen würde – etwas ganz anderes in sein Leben treten würde. Die Lachen waren Materie, Realität, Spuren, nicht nur Erinnerungsbilder, die dadurch, daß nichts Materielles zurückblieb, gleichzeitig Traum und Wirklichkeit waren. Murphy hatte mittlerweile seinen Schirm an den grünen Regulierkasten einer Ampel gehängt und war um die Ecke verschwunden, um sich im dunklen Hinterhof eines Lagerhauses zu übergeben. Sodann war er zurückgekommen, hatte den Schirm wieder sorgfältig vom Regulierkasten genommen und ging nun mit halbgeschlossenen Augen auf und ab. Er wollte nicht sprechen, und auch Haid hatte kein Bedürfnis, mit ihm zu reden. Was aber veranlaßte Murphy, hier mit Haid zu warten? Was versprach er sich davon? Ließ er sich einfach treiben, so wie Haid sich hatte treiben lassen wollen, als er überlegt hatte, dem jungen Burschen zu folgen?
     
     
57
     
     
    Wenig später war O’Maley mit geöffneten Schuhbändern aus dem Massagesalon gekommen. Sie hatten Murphy einen Dollar für die Untergrundbahn gegeben und ein Taxi zurück in das Hotel genommen. Irgend etwas Neues war zwischen sie getreten. Haid empfand die Stille wie etwas Feindliches. Es war keine nachdenkliche Pause, sondern das Schweigen von Menschen, die voneinander genug haben. Es war die erste Zurückhaltung, die man fallen läßt, bevor die Feindseligkeit offener ausbricht. Dabei wußte Haid nicht, weshalb das feindselige Schweigen gerade jetzt ausgebrochen war. Oder bildete er es sich bloß ein, daß es feindselig war? – Die Hotelhalle war dunkel, nur in der Portiersloge brannte Licht. Haid ging an den hohen Lehnstühlen vorbei, in welchen am Tag die alten Menschen hockten. Plötzlich wurde er in der Dunkelheit angesprochen. Er blickte sich um und erkannte den hageren Neger. Der Neger mußte in einem der Lehnstühle auf ihn gewartet haben. Im ersten Augenblick war Haid so erschrocken, daß er das Klopfen seines Herzens im Mund verspürte. »Ich hab auf Sie gewartet, Sir«, sagte der Hagere. »Was willst du hier?«, fragte O’Maley aus der Dunkelheit heraus.
    »Nichts, Sir«, antwortete der Neger. »Dann verschwinde.«
    »Ich konnte nicht kommen Sir«, fuhr der Hagere fort. »Mein Schwager, Sie haben ihn kennengelernt, war dabei, als man ein Mädchen vor seiner Wohnung anschoß.«
    »Gut. Dann geh nach Hause.«
    »Haben Sie ein Glas Wasser, Sir?«
    »Frag den Portier.«
    Eine Frau mit violett gepudertem Haar stand mit dem Portier hinter dem Pult.
    »Komm mit«, sagte Haid plötzlich. Er wußte nicht, warum er das gesagt hatte. Als er mit dem Neger zum Lift ging, hatte er den Eindruck, daß die Frau mit dem violett gepuderten Haar und der Portier sie lautlos auslachten. Schweigend fuhr er mit dem Neger in den elften Stock. Er führte ihn ohne Umschweife in das Badezimmer und füllte ihm das Zahnputzglas. Als der Neger wieder gegangen war, fand Haid einen Zettel, auf dem der Neger ihm den Treffpunkt für den nächsten Tag aufgeschrieben hatte.
    »Das war sehr unklug«, sagte O’Maley, der alles schweigend mitangesehen hatte. »Er weiß jetzt, auf welchem Zimmer Sie wohnen. Ich rate Ihnen, den Zimmerschlüssel nicht mehr abzugeben, wenn Sie fortgehen.«
    »Ja«, sagte Haid. Am liebsten hätte er O’Maley auch erzählt, daß er nicht hatte anders können, als den Neger auf das Zimmer mitzunehmen, aber er schwieg.
     
     
58
     
     
    Als Haid am nächsten Morgen erwachte, hatte O’Maley das Hotel bereits verlassen. Auf dem Nachttisch fand er eine Nachricht von O’Maley, daß er abgereist sei. Zunächst konnte Haid es nicht glauben. Er war überzeugt, daß O’Maley sich nur etwas Neues ausheckte, aber nichts geschah. Haid

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