Der grosse Johnson_ Die Enzyklopadie der Weine, Weinbaugebiete
trinken. Auch die Kalifornier haben ihren eigenen Geschmack. Sie mögen offenherzige, stark aromatische Weine, die oft schmecken, als hätten sie den Übergang vom Fruchtsaft zum Wein nicht ganz geschafft. Kein Wunder, dass die Meinungen über das Dekantieren auseinander gehen.
Bei manchen Weinen hat man den Eindruck, dass sie sich beim Öffnen der Flasche zusammenrollen wie ein Igel, der sich angegriffen fühlt. Der tanninreiche piemontesische Barolo zeigt eine oder mehrere Stunden lang nur seine Stacheln. Wenn man ihn in dieser Zeit trinkt, hat man nicht mehr davon, als dass er auf der Zunge brennt und einem die Röte ins Gesicht treibt. Doch dann taucht ein zartes Bouquet auf, das immer stärker wird, bis man schließlich von Himbeeren, Veilchen, Trüffeln und Herbstlaub umgeben ist.
Burgunder wird in französischen Restaurants normalerweise nicht dekantiert. Und wenn es stimmt, dass Pinot noir flüchtiger ist als Cabernet, dann hat das auch seinen Sinn: Bordeaux wird aufgeweckt, wenn er beim Umgießen von der Flasche in die Karaffe in Berührung mit Luft kommt; Burgunder hingegen braucht das nicht.
Wer an das Dekantieren glaubt, wird einen jungen Wein mehrere Stunden, einen reifen Tropfen eine oder zwei Stunden atmen lassen (wobei »jung« und »reif« relativ zur prognostizierten Reifezeit des jeweiligen Weins zu verstehen sind) und einen alten Wein wie einen Kranken behandeln, den man besser nicht dem Zug aussetzt. Merkwürdigerweise machen Leute, die sehr alte und sehr große Kostbarkeiten probieren (der 1803er Château Lafite ist ein gutes Beispiel), jedoch immer wieder die Erfahrung, dass diese mit jeder Stunde an Bouquet und Geschmack zulegen – und in manchen Fällen sogar am folgenden Tag besser schmecken als je zuvor. Ich trinke Weine meist am Abend nach dem Öffnen aus. Die einzige allgemeine Regel, die ich aus meinen Erfahrungen ableiten kann, lautet: Je besser der Wein in Bezug auf Usprung und Jahrgang ist, desto mehr bekommt ihm ein längerer Kontakt mit Luft.
Manchmal ist ein Wein beim Öffnen eine herbe Enttäuschung, wandelt sich danach aber vollkommen. Mehr als einmal hatte ich schon einen schlechten, harten, lose sitzenden Korken, und der Wein bot bei der ersten Kostprobe ein ausgesprochen dürftiges Bouquet und nur sehr wenig Geschmack, obwohl die Farbe ansprechend war. 24 Stunden später schien er seine Batterien aufgeladen zu haben: Er erschloss sich mir als das vollblütige Rassegewächs mit reichhaltigem Geschmack, das ich erwartet hatte. Die Moral der Geschichte ist, dass auch auf dem Feld des Dekantierens Experimentierfreude und Aufgeschlossenheit das Beste sind.
Die Diskussion des Für und Wider ist viel langwieriger als die Sache selbst. Es geht beim Dekantieren einfach nur darum, den Wein ohne den Bodensatz in ein anderes Gefäß umzufüllen (und das kann ein spezieller Dekanter einfacher oder dekorativer Machart sein oder auch schlicht eine gut ausgespülte normale Flasche).
Wenn man weiß, wann eine Flasche an der Reihe ist, nimmt man sie mindestens zwei Tage vorher aus dem Regal und stellt sie aufrecht hin. In dieser Zeit müsste das sogenannte Depot genug Zeit haben, langsam auf den Boden der Flasche abzusinken. Muss man aus einer Flasche dekantieren, die bis zur letzten Minute gelegen hat, braucht man einen Korb oder eine Wiege, damit die ursprüngliche Position der Flasche möglichst wenig verändert wird, wobei der Wein kurz unterhalb des Korkens stehen sollte (siehe > ). Man entfernt die Kapsel ganz, hält die Dekantierflasche in der einen Hand und gießt den Wein in einer gleichmäßigen Bewegung hinein, bis man das Depot in einem dunklen Strahl auf den Flaschenhals zuströmen sieht. Hat es die Schulter unterhalb des Halses erreicht, setzt man ab.
Der Bodensatz ist leichter zu erkennen, wenn man den Flaschenhals gegen das Licht einer Kerze oder einer Taschenlampe oder ein gut beleuchtetes weißes Blatt Papier oder eine Serviette hält. Da Vintage-Port-Flaschen aus sehr dunklem Glas (und außerdem meist staubig) sind, ist das Depot darin schlecht zu sehen. Wenn die Flasche jahrelang am gleichen Platz lag, ist es so dick und zusammenhängend, dass eigentlich nichts passieren kann. Wurde sie kurz zuvor bewegt, kann sich die Sache schwieriger gestalten und der Wein muss vielleicht sogar gefiltert werden. Ein Stück sauberer, feuchter Musselin ist dazu am besten geeignet; verwendet man Kaffeefilter, schmeckt der Wein hinterher deutlich danach.
ÖFFNEN UND DEKANTIEREN
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