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Der große Schlaf

Der große Schlaf

Titel: Der große Schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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einem orangenen Fransenschal. Sie saß sehr gerade, die Hände auf den Armlehnen, die Knie eng zusammen, den Körper steif aufrecht in der Pose einer ägyptischen Göttin, das Kinn erhoben, die Lippen über ihren kleinen, hell schimmernden Zähnen geteilt. Ihre Augen waren weit geöffnet. Das dunkle Schiefergrau der Iris hatte die Pupille verschlungen. Es waren irre Augen. Sie schien bewußtlos zu sein, aber sie hatte nicht die Haltung einer Bewußtlosen. Sie sah aus, als täte sie, im Geist, etwas sehr Wichtiges und täte es sehr gut. Aus ihrem Mund kam ein dünn kichernder Laut, der ihren Gesichtsausdruck weder veränderte noch ihre Lippen bewegte. Sie trug ein Paar lange Jadeohrringe. Es waren hübsche Ohrringe, und sie hatten sicherlich etliche hundert Dollar gekostet. Sonst trug sie nichts.
    Sie hatte einen prächtigen Körper, klein, geschmeidig, fest, kräftig, wohlgerundet. Ihre Haut im Lampenlicht hatte den schimmernden Glanz einer Perle. Ihre Beine hatten nicht ganz den verruchten Reiz von Mrs. Regans Beinen, aber sie waren sehr hübsch. Ich besah mir das Mädchen ohne Verlegenheit oder Gier. Als nacktes Mädchen existierte sie in diesem Raum überhaupt nicht. Sie war nichts als süchtig. Für mich war sie einfach nur süchtig.
    Ich hörte auf, sie anzusehen, und sah auf Geiger. Er lag mit dem Rücken auf dem Boden, hinter dem Rand des chinesischen Teppichs, vor einem Ding, das wie ein Totempfahl aussah. Das Ding hatte das Profil eines Adlers, und sein großes, rundes Auge war eine Kameralinse. Die Linse zielte auf das nackte Mädchen im Sessel. Eine ausgebrannte Blitzlichtbirne war seitlich in den Totempfahl geklemmt. Geiger trug chinesische Pantoffeln mit dicken Filzsohlen, seine Beine steckten in einem schwarzen Seidenpyjama, und seine obere Hälfte trug eine chinesisch bestickte Jacke, die vorn fast nur aus Blut bestand.
    Sein Glasauge blinkte hell zu mir auf und war bei weitem das Lebendigste an ihm. Es war klar, keiner der drei von mir gehörten Schüsse hatte ihn verfehlt. Er war sehr tot. Das Blitzlicht war der Strahl, den ich gesehen hatte. Der irre Schrei darauf war die Reaktion des gedopten nackten Mädchens gewesen. Die drei Schüsse waren der Einfall von einem, der den Dingen eine neue Wendung geben wollte. Der Einfall jenes Knaben, der über die Hintertreppe entwischt und in einen Wagen gehechtet und davongerast war. Ich konnte ihm seinen Standpunkt nachfühlen.
    Zwei zarte, goldgeäderte Gläser standen noch auf einem rotlackierten Tablett am Rand des schwarzen Schreibtisches, daneben stand ein Bocksbeutel mit brauner Flüssigkeit. Ich nahm den Stöpsel heraus und schnupperte daran. Es roch nach Äther oder ähnlichem, vielleicht Laudanum. Ich hatte diese Mixtur nie probiert, aber in Geigers menage schien sie sehr gut zu passen. Ich lauschte dem Regen, wie er auf das Dach und die Nordfenster schlug. Sonst kein Laut, keine Wagen, keine Sirene, nur der trommelnde Regen. Ich ging hinüber zum Diwan und schälte mich aus meinem Trenchcoat und wühlte in den Kleidern des Mädchens. Ich fand ein hellgrünes, grobwollenes Pulloverkleid mit Halbärmeln. Mit dem würde ich schon fertig werden.
    Ich entschloß mich, ihre Unterwäsche beiseite zu lassen, nicht aus Zartgefühl, sondern weil ich mir nicht vorstellen konnte, wie ich ihr das Höschen anzog und den Büstenhalter zuhakte. Ich trug das Kleid hinüber zum Teaksessel auf dem Podium. Auch Miss Sternwood roch meterweit nach Äther. Sie gab immer noch das dünne Kichern von sich, und ein bißchen Spucke sabberte ihr übers Kinn. Ich schlug ihr ins Gesicht. Sie blinzelte und hörte auf zu kichern. Ich schlug noch mal zu.
    »Auf gehtś«, sagte ich munter. »Jetzt sind wir schön brav und ziehen uns an.«
    Sie gaffte zu mir auf, ihre schiefergrauen Augen waren leer wie Löcher in einer Maske. »Lassimisufri«, sagte sie.
    Ich haute ihr noch ein paar runter. Die Schläge kümmerten sie nicht. Sie war noch immer hinüber. Ich machte mich mit dem Kleid ans Werk. Auch das störte sie nicht. Sie ließ mich ihre Arme hochheben und spreizte dabei weit ihre Finger, als wäre das besonders komisch. Ich bekam ihre Hände durch die Ärmel, zog ihr das Kleid über den Rücken und stellte sie auf die Füße. Sie fiel mir kichernd in die Arme. Ich setzte sie wieder in den Sessel und zog ihr Strümpfe und Schuhe an.
    »Wir gehen jetzt ein bißchen spazieren«, sagte ich. »Schön spazieren gehen wir jetzt.«
    Wir spazierten los. Die Hälfte der Zeit baumelten mir

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