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Der große Schlaf

Der große Schlaf

Titel: Der große Schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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an Ratten hinter der Wandtäfelung eines alten Hauses erinnerte.
    »Ich wette, Sie wissen nicht mal, wie ich reingekommen bin.« Ich fischte mir eine Zigarette raus und sah sie mit kalten Augen an.
    »Ich wette, ich weiß es. Sie sind durchs Schlüsselloch gekommen, genau wie Peter Pan.«
    »Wer ist das?«
    »Ach, eine Kneipenbekanntschaft von früher.«
    Sie kicherte. »Sie sind wirklich süß«, sagte sie.
    Ich wollte schon sagen: »Wie stehtś mit dem Daumen?«, aber sie kam mir zuvor. Ich mußte sie nicht erst erinnern. Sie zog die rechte Hand unter dem Kopf hervor und begann am Daumen zu lutschen und mich mit sehr runden und frechen Augen zu mustern.
    »Ich bin ganz ausgezogen«, sagte sie, nachdem ich sie rauchend eine Minute lang betrachtet hatte.
    »Mein Gott«, sagte ich, »ich wußte doch, daß da noch was war. Ich habe mir schon den Kopf zerbrochen. Ich wäre fast drauf gekommen, wenn Sieś nicht erwähnt hätten. Noch eine Minute, und ich hätte gesagt: ›Ich wette, Sie sind ganz ausgezogen.‹ Ich selber trage ja immer Gummischuhe im Bett, für den Fall, daß ich mit einem schlechten Gewissen aufwache und mich dann fortschleichen muß.«
    »Sie sind süß.« Sie rollte ein bißchen ihren Kopf wie ein Kätzchen. Dann zog sie ihre linke Hand unter dem Kopf hervor und griff nach der Decke, machte eine dramatische Pause und fegte sie beiseite. Es stimmte, sie war ausgezogen. Sie lag da im Lampenlicht auf dem Bett, so nackt und schimmernd wie eine Perle. Die Sternwood-Mädchen verwöhnten mich einfach in dieser Nacht.
    Ich zupfte mir ein Fädchen Tabak von der Unterlippe. »Sehr hübsch«, sagte ich. »Aber ich hab das alles schon gesehen.
    Erinnern Sie sich? Ich bin doch der, der Sie immer findet, wenn Sie gerade nichts anhaben.«
    Sie kicherte weiter und deckte sich zu.
    »Also, wie sind Sie denn nun reingekommen?« fragte ich sie.
    »Der Verwalter hat mich reingelassen. Ich habe ihm Ihre Karte gezeigt. Ich hatte sie Vivian gestohlen. Ich sagte ihm, Sie hätten mich herbestellt und ich solle hier auf Sie warten. Ich habe ganz ... ganz geheimnisvoll getan.« Sie strahlte vor Entzücken.
    »Fein«, sagte ich. »Ja, so sind die Verwalter. Da ich nun weiß, wie Sie reingekommen sind, sagen Sie mir doch auch, wie Sie wieder rauskommen wollen.«
    Sie kicherte. »Will ich doch gar nicht – noch lange nicht ...
    Mir gefälltś hier. Sie sind süß.«
    »Hören Sie zu«, sagte ich und zeigte mit der Zigarette auf sie. »Zwingen Sie mich nicht, Sie schon wieder anzuziehen.
    Ich bin müde. Ich weiß Ihr Angebot zu schätzen. Nur ist es mehr, als ich annehmen darf. Dobermann Reilly hat noch nie einen Kumpel verschaukelt. Ich bin Ihr Freund. Ich werde Sie nicht verschaukeln – auch wenn Sieś wollen. Sie und ich müssen Freunde bleiben, und auf diese Weise ginge das nicht.
    Wollen Sie sich also jetzt anziehen wie ein liebes, kleines Mädchen?«
    Sie schüttelte den Kopf hin und her.
    »Hören Sie zu«, plagte ich mich weiter, »Sie machen sich doch garnichts aus mir. Sie wollen doch bloß beweisen, wie unartig Sie sein können. Aber das brauchen Sie nicht. Ich weiß es bereits. Ich bin doch der, der Sie gefunden hat ...«
    »Machen Sie das Licht aus«, kicherte sie.
    Ich warf meine Zigarette auf den Boden und trat sie aus. Ich zog mein Taschentuch heraus und wischte mir die
    Handflächen. Ich versuchte es noch einmal.
    »Es ist nicht wegen der Nachbarn«, sagte ich ihr. »Denen ist das reichlich piepe. In so einem Apartmenthaus treiben sich die Miezen haufenweise umher, und wegen einer mehr wird nicht gleich die Bude einstürzen. Aber hier geht es um Berufsstolz.
    Sie wissen schon – Berufsstolz. Ich arbeite für Ihren Vater. Er ist ein kranker Mann, sehr schwach, sehr hilflos. Er vertraut irgendwie darauf, daß ich keine Mätzchen mache. Wollen Sie sich nicht bitte anziehen, Carmen?«
    »Sie heißen gar nicht Dobermann Reilly«, sagte sie.
    »Sondern Philip Marlowe. Mich können Sie nicht auf den Arm nehmen.«
    Ich blickte nieder aufs Schachbrett. Der Zug mit dem Springer war falsch. Ich stellte ihn dorthin zurück, von wo ich ihn weggenommen hatte. Edle Springer hatten keinen Sinn in dieser Partie. Es war kein königliches Spiel. Ich sah sie wieder an. Sie lag jetzt still, das blasse Gesicht auf dem Kissen, die Augen groß und dunkel und leer wie Regenfässer in der Trockenzeit. Eine ihrer kleinen fünffingrigen Hände ohne Daumen zupfte fahrig an der Decke. Irgendwo in ihr erwachte allmählich der schwache

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