Der gruene Heinrich [Zweite Fassung]
erscheinen läßt.
Sie ist die reizende Aufgabe, an welcher sich ihr einzelner messen kann, und indem er dies tut, wird er erst zum ganzen Mann, und es tritt eine wundersame Wechselwirkung ein zwischen dem Ganzen und seinem lebendigen Teile. Mit großen Augen beschaut sich erst die Menge den einzelnen, der ihr etwas vorsagen will, und dieser, mutig ausharrend, kehrt sein bestes Wesen heraus, um zu siegen. Er denke aber nicht, ihr Meister zu sein; denn vor ihm sind andere dagewesen, nach ihm werden andere kommen, und jeder wurde von der Menge geboren; er ist ein Teil von ihr, welchen sie sich gegenüberstellt, um mit ihm, ihrem Kind und Eigentum, ein Selbstgespräch zu führen. Jede wahre Volksrede ist nur ein Monolog, den das Volk selber hält.
Glücklich aber, wer in seinem Lande ein Spiegel seines Volkes sein kann, der nichts widerspiegelt als das Volk, während dieses selbst nur ein kleiner Spiegel der weiten lebendigen Welt ist und sein soll.«
Dergestalt redete ich mich in eine hohe Begeisterung hinein, je blauer der Himmel glänzte und je näher ich der Vaterstadt kam.
Freilich ahnte ich nicht, daß Zeit und Erfahrung die idyllische Schilderung der politischen Mehrheiten nicht ungetrübt lassen würden; noch weniger merkte ich, daß ich im gleichen Augenblicke, wo ich mich selbsttätig zu verhalten gedachte, auch schon die Lehren der Geschichte vergaß, noch bevor ich nur den ersten Schritt getan. Daß große Mehrheiten von einem einzigen Menschen vergiftet und verdorben werden können und zum Danke dafür wieder ehrliche Einzelleute vergiften und verderben – daß eine Mehrheit, die einmal angelogen, fortfahren kann, angelogen werden zu wollen, und immer neue Lügner auf den Schild hebt, als wäre sie nur ein einziger bewußter und entschlossener Bösewicht – daß endlich auch das Erwachen des Bürgers und Bauersmannes aus einem Mehrheitsirrtum, durch den er sich selbst beraubt hat, nicht so rosig ist, wenn er in seinem Schaden dasteht – das alles bedachte und kannte ich nicht.
Aber auch mit diesen Schatten wäre ja das Unausweichliche und Notwendige der Mehrheit, ohne deren Zustimmung der mächtigste Selbstherrscher in Rauch aufgeht, und ihre reine Größe, wenn sie unverderbt ist, stark genug gewesen, meine Vorsätze zu tragen und den Durst nach der neuen Lebensluft nicht erlöschen zu lassen. So griffen denn meine Schritte immer kecker und Unternehmungslustiger aus, bis ich plötzlich das Pflaster der Stadt unter den Füßen fühlte und ich doch mit klopfendem Herzen ausschließlicher der Mutter gedachte, die darin lebte.
Meine Sachen mußten inzwischen auf der Post angekommen sein. Ich lenkte die Schritte zuerst dahin, um sogleich eine Schachtel an Hand zu nehmen, die meine bescheidenen Reisegrüße für sie enthielt, nämlich den Stoff für ein feineres Kleid, welches zu tragen ich sie zu überreden hoffte, und einen Vorrat ausländischen Gebäckes, das, würzig und haltbar, ihr einen guten Mund machen sollte.
Diese Schachtel an der Hand, ging ich am noch lichten Nachmittage durch unsere alte Straße; sie erschien mir belebter als vor Jahren; auch sah ich, daß manche neue Verkaufsmagazine errichtet und alte ruhige Werkstätten verschwunden, mehrere Häuser umgebaut und andere wenigstens frisch verputzt waren. Nur das unsrige, ehemals eines der saubersten, sah schwarz und räucherig aus, als ich mich näherte und an die Fenster unserer Stube hinaufblickte. Sie standen offen und waren mit Blumentöpfen besetzt; aber fremde Kindergesichter schauten heraus und verschwanden wieder. Niemand bemerkte oder kannte mich, als ich eben in die bekannte Türe treten wollte, ein Mann ausgenommen, der mit einem Zollstab und Bleistift in der Hand über die Gasse geeilt kam. Es war der Handwerksmeister, der mich einst auf seiner Hochzeitsreise besucht hatte.
»Seit wann sind Sie da, oder kommen Sie eben?« rief er, eilig mir die Hand reichend.
»Diesen Augenblick komm ich«, sagte ich, und er antwortete und bat mich, schnell eine Minute bei ihm drüben einzutreten, eh ich hinaufginge.
Ich tat es mit ängstlicher Spannung und fand mich in einem schönen Verkaufsladen, in dessen Hintergrund die junge Frau am Schreibpulte saß.
Sofort kam auch sie mir entgegen und sagte: »Um Gottes willen, warum kommen Sie so spät?«
Erschreckt stand ich da, ohne noch erraten zu können, was es sein möchte, das die Leute so erregte. Der Nachbar aber säumte nicht, mich aufzuklären.
»Ihre gute Mutter ist erkrankt, so
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