Der Grüne Strahl
Tage
genügen?« erwiderte Olivier Sinclair. »Was soll uns da feh-
len? – Nichts! Wir besitzen an Bord genügend Proviant,
Wäsche für unsere Schlafstätten, Kleider zum Wechseln,
was man alles schnell ausschiffen kann, und der Koch wird
jedenfalls gern bei uns aushalten.«
»Ja . . . ja . . .«, antwortete Miss Campbell, in die Hände
klatschend, »reisen Sie ab, Kapitän, segeln Sie unverzüg-
lich mit Ihrer Yacht nach Achnagraig und lassen Sie uns auf
Staffa. Wir werden uns hier wie Ausgesetzte auf wüster Insel
befinden; wir führen hier das Leben freiwilliger Schiffbrü-
chiger. Wir erwarten dann die Rückkehr der ›Clorinda‹ mit
der Erregung, der ängstlichen Spannung jener Robinsons,
die ein Schiff in der Nähe ihrer Insel erblicken. Zu welchem
Zweck sind wir hierhergekommen? Einen Roman zu spie-
len, nicht wahr, Mr. Sinclair, und was kann es Romantische-
res geben, als diese unsere Lage, liebe Onkel? Und mein
ganzes Leben lang würde ich mir Vorwürfe machen, ein so
erhabenes Schauspiel verpaßt zu haben, wenn ich nicht ei-
— 239 —
nen Sturm, einen rasenden, über dieses Eiland fliegenden
Wind, den Zorn eines nördlichen Meeres, die ossianhaften
Kämpfe der entfesselten Elemente beobachtet hätte. Segeln
Sie weg, Kapitän Olduck! Wir bleiben hier, bis Sie wieder-
kommen!«
»Aber . . .«, stammelten die Brüder Melvill, denen dieses
Wort der Besorgnis gleichzeitig entschlüpfte.
»Mir scheint, meine Onkel hätten etwas eingewendet«,
schnitt ihnen Miss Campbell die Rede ab, »doch ich glaube
ein Mittel zu besitzen, um sie zu meiner Ansicht zu bekeh-
ren.«
Damit gab sie jedem den gewohnten Morgenkuß.
»So, das ist für dich, Onkel Sam, und für dich, Onkel Sib.
Ich wette nun, daß ihr nichts mehr zu sagen habt.«
Sie dachten gar nicht daran, Einspruch zu erheben.
Weil es ihrer Nichte beliebte, in Staffa bleiben zu wollen,
warum sollten sie da nicht hier aushalten, und warum ka-
men sie überhaupt nicht von Anfang an auf diesen einfa-
chen, so natürlichen Gedanken, der aller Interessen Rech-
nung trug?
Der Vorschlag kam jedoch von Olivier Sinclair, und Miss
Campbell glaubte ihm dafür ganz speziell danken zu müs-
sen.Nachdem also dieser Beschluß feststand, schifften die
Matrosen die für einen mehrtägigen Aufenthalt notwendi-
gen Bedürfnisse aus. Clam Shell wurde unter dem Namen
Melvill House zur einstweiligen Wohnung umgestaltet,
in der man mindestens ebenso gut untergebracht zu sein
— 240 —
meinte, wie in der Herberge von Iona. Der Koch ging sofort
daran, eine für seine Dienste passende Stelle auszuwählen,
die er in der Nähe des Höhleneingangs in einer scheinbar
zu solchen Zwecken geschaffenen Nische der Felsenwand
entdeckte.
Dann verließen Miss Campbell und Olivier Sinclair, die
Brüder Melvill, Mrs. Bess und Patridge die ›Clorinda‹ und
übernahmen das ihnen von John Olduck überlassene kleine
Boot der Yacht, das zum gelegentlichen Übersetzen von ei-
nem Felsen zum andern von großem Vorteil sein mußte.
1 Stunde später lichtete die ›Clorinda‹ mit doppelt gereff-
ten Segeln und eingezogenem Klüverjäger die Anker, und
wandte sich nach der Nordseite der Insel Mull, um durch
die schmale Wasserstraße zwischen der Insel und dem Fest-
land nach Achnagraig zu gelangen. Ihre Passagiere folgten
ihr von der Höhe Staffas aus mit den Blicken, solange sie
das schmucke Schiff sehen konnten. Sich unter dem Wind
neigend, gleich einer Möwe, die mit den Flügeln dicht über
das Wasser streicht, war es nach kaum einer halben Stunde
hinter dem Eiland Gometra verschwunden.
Wenn das Wetter auch bedrohlich schien, blieb der Him-
mel vorläufig doch noch ziemlich klar, so daß die Sonne
sehr häufig durch die Wolkenöffnungen blickte, die der
Wind im Zenit aufriß. Man konnte auf der Insel spazieren-
gehen und rings um sie dem Fuß des Basaltufers folgen. Das
erste Verlangen von Miss Campbell und den Brüdern Mel-
vill war es denn auch, sich unter der Führung Olivier Sin-
clairs zu der berühmten Fingalshöhle zu begeben.
— 241 —
Die Touristen, die von Oban kommen, pflegen diese
Höhle mit den Booten des Obaner Dampfers zu besuchen;
man kann jedoch bis nach ihrem entlegensten Hintergrund
auch dadurch gelangen, daß man an den Felsen der rechten
Seite landet, wo sich eine Art gangbarer Kai befindet.
Auf diese Weise wollte Olivier Sinclair seine Touristen
führen, ohne das Boot der ›Clorinda‹ zu
Weitere Kostenlose Bücher