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Der Grüne Strahl

Der Grüne Strahl

Titel: Der Grüne Strahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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abschließt.
    Darunter herrschte ein tönendes Schweigen – wenn
    man diese Worte in Verbindung setzen darf – das eigen-
    artige Schweigen aller tiefen Aushöhlungen der Erde, das
    die Besucher auch hier nicht zu unterbrechen wagten. Nur
    der Wind allein strich hindurch in langgezogenen Akkor-
    den, die eine melancholische Reihenfolge einmal anschwel-
    lender und dann halb ersterbender Septimen, wie die Saiten
    einer Äolsharfe, erklingen lassen. Ist es nicht dieser wun-
    derbare Effekt, von dem der Name ›An-Na-Vine‹, das ist die
    harmonische Grotte, hergeleitet ist, wie diese Höhle in der
    Sprache der alten Kelten genannt wurde?
    »Und welcher Name könnte wohl passender erscheinen«,
    sagte Olivier Sinclair, »da Fingal der Vater Ossians war, des-
    sen Genius es gelang, Poesie und Musik zu einer Kunst zu
    verschmelzen?«
    »Ohne Zweifel«, stimmte ihm Bruder Sam bei; »doch
    wie Ossian selbst sang: ›Wann, wann tönt ein Barde mir,
    preist der tapferen Toten Lob? Wann umfängt diese Freude
    mich.‹«
    »Ja«, fügte Bruder Sib hinzu. »›Keine Stimme, kein Klang
    ist in Cona, dahin ist der Fürst und der Bard’; auf den Höh’n
    wohnt Ruhm nicht mehr!‹«
    Die ganze Tiefe der Höhle wird auf ungefähr 150 Fuß ge-
    schätzt. Im Hintergrund des Kirchenschiffs erscheint eine
    Art Orgelchor, auf dem sich eine gewisse Anzahl Säulen von
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    geringerem Durchmesser als am Eingang, dafür aber in ta-
    delloser Reinheit der Linien erheben.
    Hier konnten Olivier Sinclair, Miss Campbell und deren
    beiden Onkel einen Augenblick verweilen.
    Von diesem Punkt aus bot sich eine bezaubernde, nach
    dem freien Himmel offene Perspektive, das vom Licht
    durchdrungene Wasser ließ die Anordnung des unterseei-
    schen Grunds erkennen, der aus Querschnitten von vier-
    bis siebenseitigen Säulenschäften bestand, die wie bei
    einem Mosaikpflaster dicht aneinander liegen. An den seit-
    lichen Wänden wechselte ein wunderbares Spiel von Licht
    und Schatten. Alles erlosch, wenn eine Wolke, wie ein Gaze-
    vorhang auf der Bühne, vor der Mündung der Grotte vor-
    überzog. Alles glänzte dagegen und schmückte sich mit al-
    len sieben Farben des Regenbogens, wenn ein vom Kristall
    des Grundes zurückgeworfener Sonnenstrahl sich in langen
    leuchtenden Streifen bis zur Decke der Wölbung erhob.
    Weiterhin brandete das Meer an den ersten Pfeilern des
    ungeheuren Eingangsbogens. Dieser Rahmen, der sich so
    schwarz abhob, als ob er aus Ebenholz geschnitzt wäre, ließ
    alle Herrlichkeiten hinter sich desto voller zur Geltung kom-
    men. Noch weiter draußen erschienen Himmel und Was-
    ser in blendendem Glanz, und in weiter Ferne Iona, dessen
    weiße Klosterruinen deutlich hervorschimmerten.
    Wirklich bezaubert durch diese feenhafte Pracht, ver-
    mochte niemand seinen Empfindungen Worte zu verlei-
    hen.»Welch ein Zauberpalast!« rief endlich Miss Campbell,

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    »und was für ein prosaischer Geist müßte es sein, der nicht
    glauben könnte, Gott habe ihn für die Sylphen und Ni-
    xen geschaffen! Für wen sollten beim Atmen des Windes
    die Töne dieser großen Äolsharfe erklingen? Ist das nicht
    jene überirdische Musik, die Waverley in seinen Träumen
    hörte, jene Stimme Selmas, deren Akkorde unser Roman-
    dichter aufgezeichnet hat, um damit seine Helden einzu-
    schläfern?«
    »Sie haben recht, Miss Campbell«, sagte Olivier Sinclair;
    »sicherlich dachte Walter Scott, wenn er seine Bilder in der
    poetischen Vergangenheit der Hochlande suchte, an den
    Palast Fingals.«
    »Oh, hier möcht’ ich den Schatten Ossians anrufen!« fuhr
    das schwärmerische junge Mädchen fort. »Warum sollte der
    unsichtbare Barde nicht nach 1.500jährigem Schlummer
    auf meine Stimme erscheinen! Ich stelle mir so gern vor,
    daß der Unglückliche, ebenso blind wie Homer und ebenso
    Dichter wie dieser, wenn er die großen Waffentaten seiner
    Zeit besang, sich oftmals in diesen Palast geflüchtet hat, der
    noch heute den Namen seines Vaters trägt. Hier haben ge-
    wiß die Echos Fingals häufig genug die epischen und ly-
    rischen Eingebungen seines Geistes im reinsten gälischen
    Idiom widergeklungen. Glauben Sie nicht, Mr. Sinclair, daß
    der alte Ossian auf demselben Platz gesessen haben könnte,
    auf dem wir uns jetzt befinden, und daß die Töne seiner
    Harfe sich hier mit Selmas Stimme vermischten?«
    »Wie sollte ich nicht glauben, Miss Campbell«, erwiderte
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    Olivier Sinclair, »was Sie mit so

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