Der Grüne Strahl
ausdrucksvoller Überzeu-
gung aussprechen?«
»Wenn ich ihn nun riefe?« murmelte Miss Campbell.
Und mit ihrer frischen Stimme ließ sie wiederholt den
Namen des alten Barden durch das Zittern des Windes er-
schallen.
Doch trotz des sehnlichsten Verlangens von Miss Camp-
bell, obwohl sie ihn dreimal gerufen hatte, antwortete ihr
doch nur das Echo. Der Schatten Ossians erschien nicht im
väterlichen Palast.
Inzwischen war die Sonne hinter dichten Nebeln ver-
sunken. Die Grotte füllte sich mit düsteren Schatten und
draußen wurde das Meer immer unruhiger; seine langen
Wellen begannen sich schon an den letzten Basaltsäulen zu
brechen.
Die Besucher begaben sich also in die schmale, schon
halb von Wasserschaum bedeckte Galerie zurück; sie gin-
gen raschen Schritts um die vom Wind heftig getroffene
Ecke der Insel, gegen die der Sturm von der Seeseite her an-
donnerte; weiterhin befanden sie sich vorläufig geschützt
auf dem an der anderen Seite verlaufenden Uferdamm.
Das schlechte Wetter hatte sich seit 2 Stunden noch
deutlich verschlimmert; der rasende Wind stieß sich schon
an der hohen Küste Schottlands und drohte, zum vollen Or-
kan anzuwachsen.
Durch die Basaltwand des Strands gedeckt, konnte Miss
Campbell mit ihren Begleitern jedoch Clam Shell bequem
erreichen.
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Am folgenden Tag entfesselte sich der Wind unter er-
neutem Sinken der Barometersäule mit furchtbarem Unge-
stüm; noch dichtere blaugraue Wolken erfüllten den Him-
mel und jagten ziemlich niedrig über die Erde hin. Noch
regnete es zwar nicht, aber auch die Sonne blieb unsichtbar;
höchstens schien sie einmal in langen Abständen.
Miss Campbell schien von diesem widrigen Wetter we-
niger verstimmt zu werden, als man es hätte glauben sol-
len.Dieses Leben auf einem vom Sturm gepeitschten Ei-
land entsprach ganz ihrer feurigen Natur. Wie eine Heroine
Walter Scotts gefiel sie sich darin, zwischen den Felsen von
Staffa, in ganz eigenartig neue Gedanken versunken und
meist allein umherzuirren, wobei denn auch niemand sich
ihr zur Begleitung aufdrängte.
Wiederholt kehrte sie auch zur Fingalshöhle zurück, de-
ren poetische Eigentümlichkeit sie lebhaft anzog. Hier ver-
träumte sie ganze Stunden, ohne je der erhaltenen Warnung
zu gedenken, sich nicht unachtsam in diesen unterirdischen
Palast zu begeben.
Am nächsten Tag, dem 9. September, hatte sich das Ma-
ximum des Tiefs an die Küsten Schottlands verschoben. Im
Mittelpunkt dieses Wirbels bewegten sich die Luftströme
mit unglaublicher Schnelligkeit – das war ein wirklicher
Orkan. Es wäre unmöglich gewesen, ihm auf dem Oberland
der Insel standzuhalten.
Gegen 7 Uhr abends, eben als das Diner sie erwartete,
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bemächtigte sich Olivier Sinclair und der Brüder Melvill
eine namenlose Angst.
Miss Campbell, die vor 3 Stunden weggegangen war,
ohne zu sagen wohin, hatte sich noch nicht wieder blicken
lassen.
Vorher warteten alle mit steigender Ungeduld bis um
6 Uhr . . . Miss Campbell erschien nicht.
Mehrmals stieg Olivier Sinclair nach dem Plateau der
Insel hinauf . . . er sah keine Seele.
Der Sturm wütete jetzt mit einer Gewalt ohnegleichen,
und das sich zu furchtbaren Wogenbergen auftürmende
Meer donnerte ohne Unterlaß an die nach Südwesten gele-
gene Küste der Insel.
»Unglückliche Miss Campbell!« rief plötzlich Olivier
Sinclair, »wenn sie sich jetzt noch in der Fingalshöhle be-
findet, muß sie Hilfe bekommen, sonst ist sie rettungslos
verloren.«
20. KAPITEL
Für Miss Campbell
Einige Augenblicke später war Olivier Sinclair schon am
Uferdamm entlang hingeeilt und hatte, da wo die Basalt-
treppe in die Höhe führt, den Eingang der Grotte erreicht.
Die Brüder Melvill und Patridge folgten ihm auf dem
Fuß nach.
Mrs. Bess war in unaussprechlicher Angst in Clam Shell
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zurückgeblieben, bereitete aber alles vor, um Helena bei ih-
rer Rückkehr zu empfangen.
Das Meer stieg jetzt schon so hoch, daß es den oberen
Treppenabsatz bespülte; ja, es schäumte sogar über das Ei-
sengeländer hinweg und machte jedes Vordringen auf der
inneren Seitengalerie unmöglich.
Aus der Unmöglichkeit, zu Fuß in die Grotte einzudrin-
gen, ergab sich auch die Unmöglichkeit, daraus zu entkom-
men. Wenn Miss Campbell sich darin befand, war sie eine
Gefangene. Aber wie es wissen, wie zu ihr gelangen?
»Helena! Helena!«
Konnte dieser in das Toben der Wellen hineingerufene
Name wohl
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