Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der grüne Strahl

Der grüne Strahl

Titel: Der grüne Strahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
Vom Netzwerk:
Streifenbildung leicht hätte wahrnehmen können.
    Alle Umstände vereinigten sich also, die Beobachtung des Phänomens zu begünstigen.
    Eine halbe Stunde später streckte aber Patridge plötzlich die Hand gegen Süden hin aus und rief:
    »Ein Segel!«
    Ein Segel! Sollte das heute wieder vor der Sonnenscheibe gerade in dem Augenblicke vorüberziehen, wo diese unter dem Wasser verschwand? Das wäre doch eine boshafte Tücke des Schicksals gewesen!
    Das betreffende Fahrzeug kam aus der engen Straße, welche die Insel Jona von der gegenüberliegenden Spitze von Mull trennt. Es glitt mehr durch die Wirkung der steigenden Fluth, als durch die der Seebrise hin, deren letzter Hauch kaum hingereicht haben würde, seine Segel zu schwellen.
    »O, das ist die »Clorinda«, rief Olivier Sinclair, und da diese unzweifelhaft auf den Osten von Staffa zuhält, wird sie hinter uns vorbeikommen und unsere Beobachtung nicht zu stören im Stande sein.«
    In der That war es die »Clorinda«, welche nach Umsegelung der Südseite von Mull jetzt wieder in der Bucht von Clam Shell vor Anker gehen wollte.
    Alle Blicke richteten sich wieder nach dem westlichen Horizonte.
    Die Sonne sank jetzt schon mit jener Schnelligkeit, welche sie bei Annäherung an das Meer zu beleben scheint. Auf der Wasserfläche zitterte ein weiter Silberstreifen, der von der glänzenden Scheibe ausging, deren Ausstrahlung das Auge noch nicht ertragen konnte. Bald ging jene aus der Altgoldfarbe, die sie im Niedersinken annahm, in glühendes Rothgold über. Schloß man die Lider fest über den Augen, so sah man vor denselben rothe verschobene Vierecke und gelbliche Kreuze flimmern, welche sich wie die flüchtigen Bilder des Kaleidoskops durchkreuzten. Ganz leichte, seine Wellenstreifen verzierten noch diese Art Kometenschweif, den die Wiederspiegelung auf die Oberfläche des Wassers zeichnete. Es glich einem Flockengewirbel von Silberflittern, deren Glanz mit der Annäherung an das Ufer abnahm.
    Im ganzen Umkreise des Horizontes war von einer Wolke, von einer, wenn auch noch so zarten Dunstmasse nicht die Spur zu bemerken. Nichts trübte die Reinheit dieser Kreislinie, die man mit einem Zirkel nicht hätte seiner auf einen weißen Bogen Papier zeichnen können.
    Alle betrachteten regungslos, und doch erregter als man glauben möchte, die leuchtende Kugel, die auf ihrem schrägen Wege nach dem Horizonte noch hinunterstieg und, wie gefesselt über einem Abgrunde, einen Augenblick still zu stehen schien. Dann machte sich allmählich – eine Folge der Strahlenbrechung – eine Formveränderung der Kugel bemerkbar; sie verbreiterte sich auf Unkosten ihres lothrechten Durchmessers und erinnerte an die Form einer etrurischen Vase mit ausgebauchten Seiten, deren Fuß in’s Wasser tauchte.
    Daß die Erscheinung heute zu Stande kommen mußte, unterlag gar keinem Zweifel. Nichts trübte den wunderbar schönen Niedergang des strahlenden Gestirns! »Nichts konnte seine letzten Strahlen aufhalten«.

    Bald verschwand die Sonne zur Hälfte unter der Linie des Horizonts. Einzelne Lichtbündel, gleich abgeschossenen goldenen Pfeilen, trafen die ersten Felsen von Staffa.
    Weiter rückwärts färbten sich das steile Ufer von Mull und der Gipfel des Ben More mit glühendem Purpur.
    Endlich überragte nur noch ein ganz schmaler Kreisabschnitt des oberen Bogens die Wasserlinie.
    »Der Grüne Strahl! Der Grüne Strahl!« riefen wie aus einem Munde die Brüder Melvill, Frau Beß und Patridge, deren Augen eine Viertelsecunde lang den unvergleichlich schönen Eindruck der Farbe flüssigen Nephrits empfangen hatten.
    Nur Olivier und Helena hatten nichts wahrgenommen von der Erscheinung, welche sich endlich, nach so vielen fruchtlosen Beobachtungen zeigte.
    In dem Augenblicke, wo die Sonne ihren letzten Strahl auf das hier sichtbare Erdenrund entsendete, kreuzten sich die Blicke der jungen Leute, und Beide vergaßen sich, gewiß versanken in die nämliche Betrachtung.
    Helena hatte ja den dunklen Strahl gesehen, der aus den Augen des jungen Mannes blitzte; Olivier den blauen, der jenem aus den Augen des jungen Mädchens entgegenkam.
    Die Sonne war nun völlig verschwunden – weder Olivier noch Helena hatten den Grünen Strahl gesehen!
Dreiundzwanzigstes Capitel.
Schluß.
    Am folgenden Tage, dem 12. September, lichtete die »Clorinda« bei ziemlich ruhigem Meere und günstiger Brise die Anker und segelte vom Archipel der Hebriden nach Südwesten. Bald verschwanden Staffa, Jona und die Spitze von

Weitere Kostenlose Bücher