Der gute Liebhaber
Mann, der in der Blüte des Lebens dahingeschieden war. Da stand nämlich, er habe in der Blüte seiner Jahre vor Gottes Dichterstuhl treten müssen. War das ein Druckfehler oder eine alberne Anspielung darauf, dass dieser Mann davon geträumt hatte, einen Lyrikband herauszugeben?
Karl Ástuson war so in seine Überlegungen vertieft, wie Isländer sprachlich mit dem Tod umgingen, dass er gar nicht merkte, wie die Maschine abhob; erst als die Lichter auf der Erde zu kleinen Punkten geworden waren, wusste er, dass die Dämmerung eines neuen Tages in einer neuen Dimension angebrochen war; am Himmel unten, oben und zu beiden Seiten.
In dieser Dimension war die Zeit aus flexiblem Material. Die Tatsache, dass Una an seiner Seite durch die Lüfte segelte, bedeutete nichts anderes, als dass sie die Zeit so zurechtgebogen hatten, dass sich die Jahrzehnte ineinander verhaken konnten. Von nun an würden sie so lange Seite an Seite sein, wie es die Zeit in neuen Ländern gestattete, und zwar jene Zeit, der wir uns zum Schluss alle beugen müssen, die wir nicht zurechtbiegen können. Dort existieren wir als Erinnerung, solange jemand lebt, der sich an uns erinnert.
Der Nebel der Besorgnis, der in den letzten Stunden auf Island so dicht gewesen war, dass er ganz vorsichtig gehen musste, um nicht gegen Wände zu stoßen, löste sich nach der Lektüre von drei Nachrufen auf. Karl Ástuson schlief wie ein Stein, bis das Flugzeug französischen Boden berührte.
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Ja-Tango
Das Seltsame war, dass Karl und Una, solange sie lebten, nur wenig über ihre Woche im Schlösschen Beausejour sprachen. Es lag im Süden von Arles und im Norden der Camargue, die als Schwemmland bezeichnet wird, aber eher eine dreieckige Insel mit hohem Schilf und Teichen und einer eigenständigen Fauna zwischen den Mündungsarmen der Rhone und dem Mittelmeer ist. (Der Ort auf der Welt, wo der Himmel die Erde ablöst, sagte Una.)
Karl Ástuson fand ein Wort für diese Woche und nannte sie die
Traumzeit
– ein Wort, das er aber nie laut aussprach. Trotzdem war es ein Schlüsselwort, ein Wort, auf welches das Leben hinauslief, ein Wort, das man auf den Lippen haben durfte, wenn das Leben zu Ende ging.
Am neuen Anfang wichen sie nicht voneinander, diese Liebenden früherer und neuerer Zeiten. Wenn sie zusammen Spaziergänge in der Camargue unternahmen, wo der Horizont aus einem breiten Band von Riesenschilf und langem Wasserspiegel bestand, mit Wolken und skurrilen rosa Flamingos (von denen Una sagte, sie sähen aus wie Pfefferminzbonbons auf Stelzen), waren sie einander so nahe, wie man es bei einem Spaziergang nur sein kann, auf dem man nebenbei auch vorwärtskommen will. Dabei legt der Mann der Frau seinen Arm fest um die Schultern, während sie mit ihrem Arm seine Taille umfasst. Eine Haltung, die ebenso schön wie ermüdend ist. Beim Frühstück im Wintergarten saßen sie beieinander und hielten Händchen, soweit es das Frühstück gestattete. Karl brachte es bald zu einiger Geschicktheit darin, den Kaffee mit der Linken zu trinken.
Sie wirkten die meiste Zeit ernst, diese beiden Menschen, die ansonsten immer zu einem Lachen aufgelegt waren. Man hätte den Eindruck haben können, als stünde ihnen eine Kraftprobe bevor, doch sie lebten nur in Verwunderung und Freude über das gemeinsam Erlebte, Kleines oder Großes, Erinnerungsküsse oder Originalküsse, Henriettes Aprikosenkompott, Vin de Sable aus der Gegend, den sie Sandrosé nannten, oder Ausflüge mit dem Auto in einer Landschaft, die durch weltberühmte Bilder Teil des globalen Bewusstseins geworden war. Und zu dieser Jahreszeit geschmückt mit blühenden Wolken auf Bäumen – so verschwenderisch, dass es an eine Fata Morgana gemahnte. Vor allem für Isländer, auch wenn sie viel in der Welt herumgekommen sind.
Una fügte sich in die Umgebung ein wie eine Einheimische aus einem anderen Bezirk – obwohl sie nie zuvor in Frankreich gewesen, sondern immer nur nach Italien gereist war. Auf dem Markt kannte sie sämtliche Gemüsevarianten und wählte nicht weniger kritisch aus als die Französinnen. (Fragte nach wildem Spargel, doch seine Jahreszeit war leider noch nicht ganz gekommen.) Und obendrein sprach dieses liebenswerte Geschöpf auch noch Französisch, wie auch immer sie das bewerkstelligt hatte. Karl Ástuson starrte sie an, als würde sie in Zungen reden.
In Haus und Garten von Beausejour fühlte sie sich so daheim, dass es ganz den Anschein hatte, als sei sie ein
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