Der gute Liebhaber
einen kleinen Mädchenpullover ein, den seine Mama strickte, nachdem sie krank geworden war, und der immer noch in einem ramponierten Koffer im Musikzimmer auf Long Island existierte. Es war völlig ungewiss, ob er ihr jemals den Pullover zeigen und ihr sagen würde, dass Ástamama ihn gebeten hatte, das kleine Mädchen zu grüßen, das er so gern bekommen hätte.
Das Mädchen für den Pullover stand im Augenblick auf keinem Programm und auch keine anderen Kinder. Una hatte sich nicht dazu geäußert, weshalb sie keine Kinder hatte, und fragen mochte er nicht. Er schob den Gedanken von sich weg, ob irgendwann einmal ihr eigenes Kind entstehen könnte, möglicherweise schon jetzt, oder ob Una überhaupt Kinder bekommen konnte. Er fragte sie weder danach, ob er sich vorsehen sollte, noch unternahm er etwas in dieser Hinsicht. Er hatte keine Ahnung, ob Una sich auch solche Gedanken machte, ob sie seit damals die Pille nahm. Sie ließ nichts durchblicken.
In einer Landschaft von vielen ungesagten Worten kannten sich die beiden, die hier unterwegs waren, so gut, als wären sie gemeinsam durch die Reinkarnationen der Jahrhunderte gegangen – so gut, dass es nicht einmal überraschte, wie ungleich sie in vieler Hinsicht waren. Wie unterschiedlich beispielsweise ihre Geschmäcker waren, wenn es um Restaurants ging. Ein Aspekt, der in ihrem früheren Leben kaum zum Tragen gekommen war.
Jetzt stellte sich heraus, dass sich Una in kleinen, unscheinbaren Lokalen mit ganz einfachem Essen am wohlsten fühlte. Sie konnte kein Verständnis dafür aufbringen, dass Essen wie ein japanisches Blumenarrangement auszusehen hatte, und fühlte sich in einer Selbstbedienungsraststätte an der Landstraße 113, die hauptsächlich von LKW -Fahrern frequentiert wurde, ausgesprochen wohl. Karl hingegen nahm sich dort aus wie ein Mann auf der Flucht, als er sich das Essen auf den Teller gab, und er blickte sich um, als könnte ihn jemand auf frischer Tat ertappen – der Mann, der es bislang nach Möglichkeit vermieden hatte, unter einem Michelin-Stern essen zu gehen, und der eine Weinkarte in Augenschein nahm wie ein Biologe, der eine ungewöhnliche Kreatur unter dem Mikroskop untersuchte. Una war nicht wählerisch, was Weine betraf, sie durften nur nicht schlecht schmecken. Doch, sie konnte einen guten Wein genießen, aber so etwas sollte man ihrer Meinung nach möglichst zu Hause trinken, das sei viel zu teuer in Restaurants.
In Sachen Kleidung hatten Karl und Una in früheren Zeiten ganz auf derselben Linie gelegen. Das bestgekleidete Paar in der ganzen Schule, die beiden Einzelkinder, und Karls Sachen sahen aus wie Label-Ware, obwohl sie heimgeschneidert waren. Jetzt trug er drüber wie drunter Label-Ware. Una war aber nicht dafür, allzu viel für Kleidung auszugeben, und außerdem hatte sie sich inzwischen darauf eingeschworen, dass Kleider und Schuhe bequem zu sein hatten und nicht drücken durften. Sie war alles andere als begeistert, als Karl ihr hochhackige Schuhe kaufen wollte; als er ihr den Schuh zur Anprobe brachte, musste er es über sich ergehen lassen, dass sie ihre Miene verzog, so als wolle er sie in ein Dirndl zwängen, weil er das sexy fand.
Als die Woche im Paradies ihrem Ende zuging, mussten sich Karl und Una ins Gedächtnis zurückrufen, dass das menschliche Leben nicht nur aus Musik und Küssen besteht, sondern auch voll von sogenannten Tatsachen ist. Auch wenn es sich dabei möglicherweise um Nebensächlichkeiten handelte, musste man sich doch mit ihnen vertraut machen, wenn es galt, ein neues Leben zu beginnen.
Hatte sie ihre Solistenprüfung als Pianistin absolviert? Worum ging es in ihrer Magisterarbeit im Fach Italienisch? Seit wann arbeitete sie nicht mehr in der isländischen Oper? In welchem Jahr war sie zum Silberstrand gezogen? Was waren ihre Lieblingsorte in Italien? Und weswegen fuhr sie immer dorthin?
Una wiederum fragte nach dem Haus auf Long Island, von dem sie glaubte, dass es gleich nach ihrem heißgeliebten eigenen Haus das spannendste auf der Welt sein musste, und sie befragte ihn auch eingehend nach Lotta. Karl spürte instinktiv, dass die Situation brenzlig werden würde, und verlegte sich unverzüglich darauf, die räumliche Trennung zweier Frauen zu planen. Das Büro musste außer Haus verlegt und stattdessen etwas in einer Entfernung angemietet werden, die zu Fuß zu bewältigen war. Diese Maßnahme war ebenso logisch wie die, zwei Sopranistinnen nicht gleichzeitig auf dieselbe Bühne zu
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