Der gute Liebhaber
Schüchternheit gegenüber dem fremden Mädchen ein paarmal. Aber bald zog ihn Chopin mit seinem Abschiedswalzer wieder ganz und gar in seinen Bann. Der Junge spielte wie nie zuvor und vergaß alles um sich herum. Und als er schließlich aufstand, hatte er die Anprobe im Wohnzimmer ebenfalls vergessen. Das führte dazu, dass er sah, wie ihr das Weihnachtskleid über den Kopf gezogen wurde, wobei nackte Knie und Beine zum Vorschein kamen, denn das Mädchen kannte keine Scheu und wurde nicht vollständig von dem Paravent verdeckt. Der Junge erschrak bei diesem Anblick heftig, doch es gelang ihm, sich nichts anmerken zu lassen. Er ging ganz ruhig in die Küche, so als sei nichts vorgefallen, und er konnte nicht sehen, dass ihr das etwas ausgemacht hätte.
In der Küche nahm er wie geplant das Glas Milch zu sich, und dazu aß er einen von den Keksen mit Schönheitsfehlern, die er erst kürzlich in der Fabrik gekauft hatte. Er erinnerte sich deutlich, dass das Mädchen im Wohnzimmer dunkelhaarig und keineswegs hellhäutig war. Er erinnerte sich auch, dass das Weihnachtskleid aus einzigartig rotem Samt war (so rot, dass er an Purpur denken musste) und dass es einen roten Spitzenbesatz und samtbezogene Knöpfe hatte. Er saß mit seinem Glas auf einem Küchenhocker und bekam aufs Neue Herzklopfen, als das Mädchen in die Küche hereinschaute. Jetzt war sie wieder dick vermummt und sagte mit einem freundlichen Lächeln leise adieu.
Er war so abwesend nach diesem Besuch, dass er eine ganze Weile wie angewurzelt bei der Küchentür stehen blieb. Als plötzlich der Tanzlehrer auftauchte, der Jón hieß, amüsierte er sich so sehr über den Sohn der Schneiderin mit dem Keks in der Hand, dass er sagte: Wohl bekomm’s, bevor er ins Wohnzimmer ging.
Der Sohn erfuhr noch am gleichen Abend von seiner Mutter, dass das Mädchen Una hieß und ebenfalls Klavierunterricht hatte. Sie war das einzige Kind eines schon etwas älteren Ehepaars und wohnte am Grundarstígur. Der Vater des Mädchens war Kaufmann. Durch Nachforschungen fand er heraus, dass sie genau wie er in einem Eckhaus wohnte, und er musste viel über diese göttliche Vorsehung nachdenken.
Von da an beschäftigte ihn das Mädchen Una und alles, was mit ihr zusammenhing, und die Sache wurde nicht besser dadurch, dass er zu Weihnachten in viel zu zartem Alter Doktor Schiwago von Boris Pasternak las, in dem sich alles um die Liebe zu Larissa dreht. Er nannte das Mädchen hinter dem Paravent im Stillen Una Larissa und nahm sich vor, Medizin zu studieren.
Mit anderen Worten, das Mädchen mit den kurzen Haaren ging ihm fortan nicht mehr aus dem Sinn, ebenso wenig wie das Wunder, als sie sagte: Spiel weiter. Er beobachtete sie aus den Augenwinkeln beim Eislaufen auf dem Stadtteich und auch andernorts, und als sie in der Abschlussklasse des Gymnasiums waren und nach dem Silvesterfeuer ein Liebespaar wurden, hatte er das Gefühl, er sei im siebten Himmel.
Und jetzt konnte er endlich Una die Frage stellen, die ihm seit seinem elften Lebensjahr auf den Lippen gebrannt hatte: Wieso bist du mit deiner guten Erziehung im Mantel ins Wohnzimmer gekommen? Und die Antwort war einleuchtend: Die Klingel war kaputt.
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Der gute Liebhaber
Warum hast du mir nicht gesagt, dass sie schwarz ist?
Ich habe nie behauptet, dass sie weiß wäre.
Du versuchst nur, dich herauszureden, du differenzierst.
Und dann lachten sie, aber Una war trotzdem enttäuscht, als hätte Karl ihr etwas Wichtiges verschwiegen, nämlich nichts Geringeres als die Hautfarbe der rechten Hand, die sich nach dem ersten höflichen Gespräch mit der neuen Frau des Hauses in ihr Büro zurückgezogen hatte.
Karl hatte sich eine Galgenfrist erkauft, indem er Lotta einen halben Monat lang in Urlaub geschickt hatte, einen Tag bevor er und Una in Amerika eintrafen. Wozu, fragte er sich, es änderte ja doch nichts an der Lage, in die er sich hineinmanövriert hatte, indem er die Sache vor sich herschob, anstatt sie wie ein Mann in Angriff zu nehmen und unverzüglich dafür zu sorgen, dass das Büro aus dem Haus verbannt wurde. Und mit etwas Einfallsreichtum in irgendein Gespräch eine Hauptsache wie die Hautfarbe einfließen zu lassen, obwohl sie für ihn eine Nebensache war.
Jetzt versuchte er, sein Vergehen wiedergutzumachen, indem er die Karten auf den Tisch legte. Er ließ sich zwölf Minuten lang mit all den ausgefeilten rhetorischen Finessen, die er sich im Debattierclub des alten Gymnasiums angeeignet
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