Der gute Liebhaber
Bein. Eine unerwartete Störung und möglicherweise sogar eine gefährliche. Doch nur, wenn er mit der Lektüre fortfuhr. Sollte er dieses Risiko eingehen? Der Privilegierte, dessen Leben Nummer zwei mit der Traumfee begonnen hatte – denn das war sie in der Tat, Una, die Traumfee, seine einzige Liebe, Stoff für die Tagträume jahraus, jahrein. Kein Buch durfte den goldenen Schnitt des neuen Lebens von ihm und Una beeinträchtigen. Es war seine Aufgabe, diese Störung abzuwenden, egal mit welchen Mitteln, er musste sie rasch und entschlossen ein für alle Mal aus der Welt schaffen, um maximale Schadensbegrenzung sicherzustellen. Um ungehindert und ungestört das kostbare Leben weiterleben zu können, das ihm aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz ein weiteres Mal zum Geschenk gemacht worden war.
Es überstieg seine Kräfte, sich von der Grand Central Station loszureißen. Mit dem Buch in der Hand war er auf dem Weg nach draußen, als er an eine Treppe geriet – genau wie seinerzeit, als er gerade in die Stadt gekommen war. Tränen waren ihm in der Zwischenzeit abhandengekommen, doch Trübsal hielt ihn umfangen, ohne dass er wusste, weshalb sie ihn immer noch heimsuchte, einen Mann, der auf Long Island eine Una besaß. Eine Una, die sich bald unter ein isländisches Eiderdaunenbett kuscheln und darauf warten würde, dass er nach Hause käme.
Er schlug das Buch wieder auf und starrte ein weiteres Mal auf die Widmung, die ihn in der zierlichen, aber entschlossenen Schrift der Autorin in einen Romanhelden verwandelte, in die Vorlage. Jeder Buchstabe klar ausgeprägt. Irrtum ausgeschlossen.
Er blätterte zu der Stelle, wo er aufgehört hatte. Die Schilderung dessen, was zwischen Doreen und ihm vorgefallen war, ging bis ins kleinste Detail weiter, wie und wo sie gestanden und gesessen hatten. Unglaublich, wie präzise sie die Wirklichkeit beschrieb – sie erlaubte sich praktisch keinerlei Abweichungen, um die Realität zu würzen, um die Realität abzurunden. Entsprechend kantig war das Ergebnis.
Romanheld Karl Ástuson war einem Mann mit einem großen Koffer im Wege, der die Treppe hinuntereilte. Er konnte dankbar sein, keine Verletzungen davonzutragen. Er klappte das Buch zu, stand auf und zwang sich, auf die Straße zu gehen. Er streifte ziellos durch die breiten Straßen, nicht imstande, das zu tun, was er am liebsten getan hätte, nämlich ein signiertes Buch wegzuwerfen und nach Hause zu gehen. Es endete damit, dass er sich im erstbesten Hotel einquartierte, um die Lektüre ungestört fortsetzen zu können. Ein farbloses Drei-Sterne-Hotel mit einer nichtssagenden Rezeption.
Es sah ihm gar nicht ähnlich, in anderen als anständigen Hotels abzusteigen, doch dies hier war ein Notfall, er hatte keine Zeit, lange zu suchen. Die Zeit, um den
Guten Liebhaber
zu lesen, lief ihm davon, er konnte sich nicht den ganzen Abend in der City herumtreiben, ohne Una Bescheid zu sagen. Es ging um ein Buch, das er nach dem heutigen Abend nie wieder öffnen durfte, es stellte eine Bedrohung für Una und ihn dar.
Im ehemaligen Leben von Karl Ástuson hätte dieses Buch keinerlei Schaden anrichten können. Er hätte dieses Buch und auch die ganze Idee bestimmt komisch gefunden, aber nun hatte der Zufall es so gewollt, dass er im Begriff war, sein Leben wieder auf die Reihe zu bekommen, und zwar in einer Weise, die nur ganz wenigen vergönnt war. Jetzt bedurfte es der Mobilisierung aller Kräfte, um sich dem unerhörten Eingriff einer schicksalhaften Person zu stellen, deren Aufgabe eigentlich beendet war, und dabei wollte er hart und konzentriert durchgreifen.
Er sehnte sich nach einer Dusche, aber dazu war keine Zeit. Am liebsten hätte er in diesem Hotelzimmer übernachtet, aber er durfte Una nicht die Unwahrheit sagen, und überdies hätte er Probleme damit gehabt, sich eine Ausrede einfallen zu lassen. Sie durfte unter gar keinen Umständen Verdacht schöpfen. Verdacht auf einen Seitensprung. Was für ein groteskes Wort, Seitensprung! Er war dankbar, dass er dergleichen nur vom Hörensagen kannte, dass es bei ihm nie die Voraussetzung für Seitensprünge gegeben hatte, dass er auf ewig von dem Makel verschont bleiben würde, ein Seitenspringer zu sein.
Karl Ástuson, den es so sehr nach einer Dusche verlangte, zog die Schuhe aus, setzte sich mit ausgestreckten Beinen auf das Bett mit dem braun verblichenen Überwurf, rückte die Kissen zurecht, fand eine bequeme Stellung und öffnete das Buch über sich selber. Er blickte
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