Der gute Liebhaber
sich noch einmal um, bevor er weiterblätterte, das Zimmer war von kaum zu überbietender Geschmacklosigkeit. Von der gegenüberliegenden Wand schrie ihm Edvard Munch entgegen. War er in Oslo, oder war er in New York? Das musste an diesem Ort und zu dieser Stunde nicht sein. Er sprang vom Bett auf und drehte den
Schrei
um.
Es gelang ihm nicht, wieder seine bequeme Stellung zu finden. Hektisch begann er, nach seinem Namen zu suchen. Was für einen Namen sie ihm wohl verpasst hatte? Sie rückte auf Seite 53 damit heraus, als sie sich im Restaurant Mamma mia! niedergelassen hatten. Er hieß Carl Söhnlein, ein Amerikaner mit einer schwedischen Mutter. Nur gut, dass es nicht ein Isländer namens Karl Ástuson war. Wie hätte er DAS Una erklären können, falls sie sich dazu verleiten ließe, dieses Buch zu lesen? Der Name Söhnlein missfiel ihm sehr, das war viel zu platt. Und außerdem hieß ein billiger deutscher Schaumwein so. Irgendetwas an dieser Kombination von Schaum und Söhnchen passte ihm gar nicht, und er verwünschte die Autorin im Stillen.
Eine schwedische Mutter, ja – aber was war mit der Vaterschaft? Wer sollte sein Vater sein, und welchen Hintergrund hatte er? Sie würde es doch wohl nicht wagen, ihren Romanhelden vaterlos zu lassen?
Karl Ástuson blätterte wie wild, fand nichts über die Vaterschaft, dafür aber umso mehr über seine eigenen grünen Augen, oh, dieser grüne Schimmer, oh, oh! Diese Beschreibungen waren alles andere als gelungen, lauter Klischees über inneres Leuchten und selbstverständlich das Meer. Ziemlich eindeutig, dass die Autorin keine dichterische Ader besaß. Und mit ihrer Wissenschaft war es auch nicht weit her. Würden sich ihre Kollegen amüsieren?
Der Leser im Hotelzimmer hatte sich hastig bis zur Mitte des Buchs vorgeblättert. Zu seinem Entsetzen fuhr sie mit diesen präzisen Schilderungen fort und verlagerte den Schwerpunkt auf Charakter- und Verhaltensanalyse und das, worüber sie sich unterhalten hatten. Und dabei kam der Gute Liebhaber gar nicht so gut weg, oh nein; egal, was für gute Noten er für Benehmen, Liebkosungen, gepflegte Sprache oder Aussehen bekam. Die Autorin vertrat beispielsweise die Auffassung, dass der Gute Liebhaber zwar so getan hatte, als würde er etwas geben, aber in Wirklichkeit hatte er nicht einen Millimeter von sich preisgegeben, außer im eigentlichen Liebesspiel; da hatte er alles gegeben, weil er sich dabei eine andere Frau vorgestellt hatte.
Der Mangel an Freigebigkeit hatte sich unter anderem darin gezeigt, wie er das Gespräch überaus geschickt und geschmeidig von sich ablenkte, wenn die Autorin etwas anschnitt, was von Belang war. Ein abgekartetes Spiel, ein vielerprobter Plot, alles war auf eine flüchtige Begegnung angelegt, die nichts Tiefergehendes hinterlassen sollte als die Erinnerung an eine schöne Fassade, eine glatte und polierte Begegnung, ein einziges Mal, spaßeshalber.
Die Autorin hielt sich beharrlich und unverfroren an die Marschrichtung, konkrete Beispiele aus der Realität anzuführen, wie sich der Gute Liebhaber aus der Affäre zog, wenn es galt, eine relevante Frage zu beantworten, wie er sofort jeden Faden zerschnitt, der zu ihm hätte führen können – und wie entschlossen er war, jegliche Andeutung darüber zu vermeiden, dass es vielleicht zu einer weiteren Begegnung kommen könnte. Der Autorin zugutehalten musste man, dass sie dieses taktische Verhalten in ihrer Weise für aufrichtig hielt.
Immer noch nichts im Hinblick auf die Schlüsselfrage, die Vaterschaft, aber ganze und halbe Seiten über seine Hände, über künstlerische, verführerische Finger, die alles richtig machten, ob sie nun das Besteck hielten oder irgendetwas berührten, beispielsweise den Handrücken der Autorin. Er hatte nun schon diverse Abschnitte über seine Hände hinter sich, und so langsam wurde ihm mulmig bei dem Gedanken daran, was die Autorin über diese Finger schreiben würde, wenn sie erst mal im Bett angelangt wäre. Ihr war es vermutlich durchaus zuzutrauen, dass sie das ebenfalls alles minuziös beschreiben würde. Sollte er es sich allen Ernstes zumuten, das zu lesen? War es nicht an der Zeit, den
Guten Liebhaber
ein für alle Mal zu entsorgen?
Wozu mit solchen peinlichen Reminiszenzen weitermachen, jetzt, wo das Guter-Liebhaber-Kapitel in seinem Leben zu Ende war? Der Liebhaber von Liebhaberinnen existierte nicht mehr. Er war nur noch der Geliebte einer einzigen Frau. Der Ein-Frau-Liebhaber. Verdammt
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