Der gute Liebhaber
Schuld immer auf andere und waren überzeugt von sich selbst. Vielleicht gab es keine andere Möglichkeit des Existierens, als sich tief im Inneren einzubilden, dass man bedeutender sei als die anderen. Einem Mann half es natürlich, das wusste er wie kein anderer, die beste Mutter der Welt zu besitzen.
Immer noch war Karl Ástuson ziellos, als er auf die Straße trat, und zwar so sehr, dass er nicht schnurstracks den nächsten Zug nach Long Island nahm, um nach Hause zu kommen. Stattdessen trieb es ihn zu der Bar, wo er Doreen Ash gefunden hatte. Denn eines war gewiss, er hatte sie gefunden. Die Lichtreklame mit dem Namen der Bar war kaputt, die verbliebenen, noch leuchtenden Buchstaben ergaben ASH . Ein Scherz. Noch einer. Er ging hinein, setzte sich an den Tisch unter dem Bild von Ronald Reagan und bestellte ein Glas Champagner.
In diesem Augenblick vermisste er Doreen, sehnte sich danach, mit ihr zu sprechen, ihr zuzuhören, wenn sie mit heiserer Stimme etwas Unerwartetes oder vielleicht auch etwas Unangenehmes sagte. Gleichzeitig haderte er mit sich selbst; dass er sich erdreistete, eine andere Frau als Una zu vermissen. Er hatte Una und sich im Stich gelassen, er bemitleidete sich dafür, sich unauslöschlich in Doreen Ashs Innenleben verstrickt zu haben, dafür würde er mit einer ernsthaften Störung in seiner eigenen großartigen Glücksstrategie büßen müssen. Er war zu einem Mann in einem Buch geworden, und zwar zu einem ziemlich miesen Exemplar, obwohl die Autorin es wohl nicht so gemeint hatte. Nicht bewusst.
Diese Situation wurmte ihn zutiefst: unter dem Bild von Ronald Reagan zu sitzen und Doreen Ash nachzutrauern. Er konnte allerdings nicht ahnen, dass er im Nachhinein froh sein würde, ihr nachgetrauert zu haben – aus einem Grund, der mit dem neuen Tag ans Licht kommen würde.
Er starrte vor sich hin, und auf einmal vernebelte sich alles. Verschwommene Konturen von Stühlen und Tischen und die wenigen anderen Gäste verschleiert. Diese Sinnestäuschung hätte gereicht, um jeden normalen Menschen zu erschrecken, aber er genoss sie im Grunde genommen und leerte sein Champagnerglas langsam.
Als der Nebel verflog, saß die alte Dame genau wie damals am nächsten Tisch, immer noch mit der weißen Schirmmütze auf dem Kopf, immer noch weißen Schaum durch einen Strohhalm saugend – aber sie sah erheblich jünger aus als vor drei Jahren. Bei welchem Arzt war sie?
Er nickte der Alten zu, als er hinausging, und sie erwiderte den Gruß nachdenklich, so als wisse sie mehr als er, und das tat sie wahrscheinlich.
Jetzt war es auf Doreens Bürgersteig dunkel, denn die Straßenlaterne an der Ecke hatte den Geist aufgegeben, während er in der Bar gewesen war. Er stellte sich den Sonnenfleck bei dem grünen Koffer vor, das war drei Jahre her, und die Frau in dem weißen Wickelkleid mit dem Champagnerglas auf einer Ein-Frau-Party, bis er hinzukam und sagte:
Man hält es drinnen einfach nicht aus, wenn die Sonne endlich durchkommt.
Das war eine schöne Erinnerung, die wollte er bewahren und alles andere entsorgen, und das tat er.
Der Gute Liebhaber
landete in einer Mülltonne an der Ecke unter einer kaputten Laterne, abgesehen von der signierten Seite, die bereits in Fetzen durch die Kanalisation von New York gondelte.
Für den Guten Liebhaber höchstselbst –
mit einem Maximum an Liebe und Dank,
Doreen Ash.
Eine Widmung für einen Romanhelden, jetzt für ewig und alle Zeiten verflossen. Die Bekanntschaft zwischen der Verfasserin und dem Romanhelden war im Reißwolf der Zeit gelandet, und wenn er zu bestimmen hätte, durfte sie dort ruhig zerrissen werden. Und natürlich konnte er bestimmen. Keine Gefahr, dass die Autorin ihm die Hölle heißmachen würde. Sie würde ihn in Ruhe lassen – nicht zuletzt deswegen, weil sie den Schlusspunkt unter den Roman mit ihm gesetzt hatte. Den Guten Liebhaber, zu dem er jetzt
höchstselbst
geworden war. Einen Strich unter das Ganze zu ziehen, war eine andere Sache. Allen Anzeichen nach würde sie das nicht tun, nicht tun können, nicht in diesem Leben.
Una war bereits im Bett, als er nach Hause kam. Sie schlief immer auf der Seite. Er betrachtete den Kopf auf dem Kissen, das kurze Haar, das sich bis zur Nasenspitze über die Wange legte, wie ein umgekehrter Fächer. Er sah auf den cremegelben Seidenträger ihres Nachthemds, die reizende Schulter und den langen Oberarm, den er seit ihrem elften Lebensjahr kannte, und wartete darauf, dass sie
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