Der gute Mensch von Sezuan
er wartet auf den Vetter. Aber um mich sitzen die Verletzlichen, die Greisin mit dem kranken Mann, die Armen, die am Morgen vor der Tür auf den Reis warten, und ein unbekannter Mann aus Peking, der um seine Stelle besorgt ist. Und sie alle beschützen mich, indem sie mir alle vertrauen.
SUN starrt auf den Glaskrug, in dem der Wein zur Neige gegangen ist: Der Glaskrug mit dem Wein ist unsere Uhr. Wir sind arme Leute, und wenn die Gäste den Wein getrunken haben, ist sie abgelaufen für immer.
Frau Yang bedeutet ihm zu schweigen, denn wieder werden Schritte hörbar.
DER KELLNER herein: Befehlen Sie noch einen Krug Wein, Frau Yang?
FRAU YANG Nein, ich denke, wir haben genug. Der Wein macht einen nur warm, nicht?
DIE SHIN Er ist wohl auch teuer.
FRAU YANG Ich komme immer ins Schwitzen durch das Trinken.
DER KELLNER Dürfte ich dann um die Begleichung der Rechnung bitten?
FRAU YANG überhört ihn: Ich bitte die Herrschaften, sich noch ein wenig zu gedulden, der Verwandte muß ja unterwegs sein. Zum Kellner: Stör die Feier nicht!
DER KELLNER Ich darf Sie nicht ohne die Begleichung der Rechnung weglassen.
FRAU YANG Aber man kennt mich doch hier!
DER KELLNER Eben.
FRAU YANG Unerhört, diese Bedienung heutzutage! Was sagst du dazu, Sun?
DER BONZE Ich empfehle mich. Gewichtig ab.
FRAU YANG verzweifelt: Bleibt alle ruhig sitzen! Der Priester kommt in wenigen Minuten zurück.
SUN Laß nur, Mama. Meine Herrschaften, nachdem der Priester gegangen ist, können wir Sie nicht mehr zurückhalten.
DIE SCHWÄGERIN Komm, Großvater!
DER GROSSVATER leert ernst sein Glas: Auf die Braut!
DIE NICHTE zu Shen Te: Nehmen Sie es ihm nicht übel. Er meint es freundlich. Er hat Sie gern.
DIE SHIN Das nenne ich eine Blamage!
Alle Gäste gehen ab.
SHEN TE Soll ich auch gehen, Sun?
SUN Nein, du wartest. Er zerrt sie an ihrem Brautschmuck, so daß er schief zu sitzen kommt. Ist es nicht deine Hochzeit? Ich warte noch, und die Alte wartet auch noch. Sie jedenfalls wünscht den Falken in den Wolken. Ich glaube freilich jetzt fast, das wird am Sankt Nimmerleinstag sein, wo sie vor die Tür tritt und sein Flugzeug donnert über ihr Haus. Nach den leeren Sitzen hin, als seien die Gäste noch da. Meine Damen und Herren, wo bleibt die Konversation? Gefällt es Ihnen nicht hier? Die Hochzeit ist doch nur ein wenig verschoben, des erwarteten wichtigen Verwandten wegen, und weil die Braut nicht weiß, was Liebe ist. Um Sie zu unterhalten, werde ich, der Bräutigam, Ihnen ein Lied vorsingen. Er singt
D AS L IED VOM S ANKT N IMMERLEINSTAG
Eines Tags, und das hat wohl ein jeder gehört
Der in ärmlicher Wiege lag
Kommt des armen Weibs Sohn auf 'nen goldenen Thron
Und der Tag heißt Sankt Nimmerleinstag.
Am Sankt Nimmerleinstag
Sitzt er auf 'nem goldenen Thron.
Und an diesem Tag zahlt die Güte sich aus
Und die Schlechtigkeit kostet den Hals
Und Verdienst und Verdienen, die machen gute Mienen
Und tauschen Brot und Salz.
Am Sankt Nimmerleinstag
Da tauschen sie Brot und Salz.
Und das Gras sieht auf den Himmel hinab
Und den Fluß hinauf rollt der Kies
Und der Mensch ist nur gut. Ohne daß er mehr tut
Wird die Erde zum Paradies.
Am Sankt Nimmerleinstag
Wird die Erde zum Paradies.
Und an diesem Tag werd ich Flieger sein
Und ein General bist du
Und du Mann mit zuviel Zeit kriegst endlich Arbeit
Und du armes Weib kriegst Ruh.
Am Sankt Nimmerleinstag
Kriegst armes Weib du Ruh.
Und weil wir gar nicht mehr warten können
Heißt es, alles dies sei
Nicht erst auf die Nacht um halb acht oder acht
Sondern schon beim Hahnenschrei
Am Sankt Nimmerleinstag
Beim ersten Hahnenschrei.
FRAU YANG Er kommt nicht mehr.
Die drei sitzen, und zwei von ihnen schauen nach der Tür.
Z WISCHENSPIEL
W ANGS N ACHTLAGER
Wieder erscheinen dem Wasserverkäufer im Traum die Götter. Er ist über einem großen Buch eingeschlafen. Musik.
WANG Gut, daß ihr kommt, Erleuchtete! Gestattet eine Frage, die mich tief beunruhigt. In der zerfallenen Hütte eines Priesters, der weggezogen und Hilfsarbeiter in der Zementfabrik geworden ist, fand ich ein Buch, und darin entdeckte ich eine merkwürdige Stelle. Ich möchte sie unbedingt vorlesen. Hier ist sie er blättert mit der Linken in einem imaginären Buch über dem Buch, das er im Schoß hat, und hebt dieses imaginäre Buch zum Lesen hoch, während das richtige liegenbleibt:
WANG »In Sung ist ein Platz namens Dornhain. Dort gedeihen Katalpen, Zypressen und Maulbeerbäume. Die Bäume nun, die ein
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