Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist
wozu dient dann die Therapie? Sie können uns nicht in Zebras verwandeln, oder?«
»Eine richtige Frage«, sagt er. »Und die Antwort besteht aus zwei Teilen. Erstens ist das Bewusstsein nicht nur ein Hindernis. Zweitens lebt das Zebra teilweise noch immer in uns fort. Was das Bewusstsein angeht, so ist es außerdem eine Brücke. Der Teil, der das Objekt beobachtet, muss per Definition immer außerhalb stehen. Fische wissen nicht, dass sie im Meer schwimmen. Deshalb ist es wichtig, wenn der Klient sagt Ich bin traurig , ihm klarzumachen, dass eine solche Behauptung ungenau ist. Ein Teil von ihm ist traurig. Das ist die Wahrheit. Der traurige Teil macht die Erfahrung der Traurigkeit; er kennt Traurigkeit. Doch er hat auch noch einen anderen Teil in sich, der jenseits der Traurigkeit existiert und sich ihrer bewusst ist. Der bewusste Teil weiß von der Traurigkeit und kann deshalb mit ihr in Dialog treten, sie manipulieren. In einer Krise erlaubt uns ein solches Bewusstsein, in Zeit und Raum vor- und zurückzuspringen, was uns dazu befähigt, die richtige Perspektive zu wahren. Wenn ich deprimiert bin, bin ich dank meines Bewusstseins in der Lage, die Grenzen meiner Depression zu erkennen, die von innen heraus nicht sichtbar sind. Da ich das Ende meiner Depression absehen kann, kann ich Hoffnung haben.
Gleichzeitig ist uns die Fähigkeit des Zebras, voll in der Gegenwart zu leben, im Fluss des Seins zu bleiben, nicht völlig ausgetrieben worden. Sie alle haben irgendwann so etwas empfunden, eine Grenzerfahrung, wie Maslow es nennt. Versuchen Sie, sich an einen solchen Moment zu erinnern, in dem die Zeit bedeutungslos wurde und stillstand; in dem Sie sich eins fühlten mit der Welt und dem Augenblick, in ungezwungener Kontrolle und grenzenlosem Glück; in dem Sie mühelos hellwach waren und von staunender Ehrfurcht erfüllt. Sicher können Sie sich an einen solchen Moment erinnern.«
»Ein Orgasmus«, verkündet Eric von seinem Platz an der Wand. Das pinkhaarige Mädchen erschaudert ein wenig. Jennifer runzelt die Stirn. Der Psychologe wartet.
»Im Gebet«, sagt der Junge mit der Krawatte unvermittelt, »wenn man die Gegenwart Gottes in seiner Seele spürt.«
»Vor einer Woche habe ich eines Nachmittags in meiner Wohnung gespült«, sagt Jennifer leise. »Ich hasse es, wenn die Spüle von schmutzigem Geschirr überquillt. Wie auch immer, plötzlich sah ich durch das Fenster ein Albinoeichhörnchen. Es hockte mitten auf dem Rasen. Sein Schwanz zuckte von links nach rechts, als wäre es unentschieden, was es tun solle. Es hielt eine dicke Nuss in den Pfoten und wirbelte sie herum. Es blickte sich um. Plötzlich rannte es los, sprang einen Baum hinauf und verschwand. Und ich stellte fest, dass fünf Minuten vergangen waren. Das Wasser lief in die Spüle. Plötzlich merkte ich, dass ich wie versteinert die ganze Zeit mit dem Handtuch in der Hand dagestanden hatte, ich hatte nichts um mich herum wahrgenommen. Ich war traurig, als es verschwunden war. Und dabei mag ich Eichhörnchen nicht einmal; sie kommen mir immer vor wie Ratten mit besonderen Schwänzen.« Ihre Stimme kippt. »Gilt das?«
»Das gilt«, sagt der Psychologe ruhig, und ihm fällt auf, dass es auch in der Klasse stiller geworden ist, als hielten alle den Atem an. »Dieser Moment, den Sie da erlebt haben, und Ihre Schilderung davon, das sind die Instrumente, mit denen man im Inneren navigiert. Den Moment zu erkennen und von diesem Moment zu wissen.«
19
D er Psychologe sitzt in seinem Sessel und versucht, seine sich überschlagenden Gedanken zu ordnen, sein Gemüt zu beruhigen und sich auf seine Vier-Uhr-Klientin zu konzentrieren, die mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Sofa sitzt. Der Lkw-Fahrer war an diesem Morgen gekommen und hatte sich besser gefühlt. Zwei Wochen auf der Straße ohne eine einzige Panikattacke, sagte er. Die Atemübungen helfen. Ich bin bereit für die nächste Stufe, Doktor, bereit, in den Wald zu gehen, ein bisschen Angst zu jagen, wie Sie sagen. Die Sekretärin erzählte ihm bei ihrem Besuch, dass ihre Angst, Geld anzufassen, sich ein wenig gebessert hat, und damit auch die Häufigkeit des Händewaschens; doch stattdessen tauchen neue Probleme auf. Sie ertappt sich dabei, wie sie in ihrem Schlafzimmerschrank die Kleiderbügel ordnet, die Abstände zwischen ihnen wieder und wieder überprüft, und im Küchenschrank arrangiert sie stets aufs Neue die Dosen und stellt sicher, dass die Etiketten alle nach vorn zeigen.
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