Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist
Die Bankkassiererin erzählt ihm durch einen Tränenvorhang, dass sie von ständigen Sorgen bedrängt wird, und zählt außerdem detailliert diverse körperliche Unbilden und vage Leiden auf: Magenschmerzen, Nervosität und Schlaflosigkeit. Ihre Muskeln schmerzen. Sie kann sich nicht konzentrieren. Und was ist, wenn uns das Geld ausgeht? Was, wenn ich plötzlich bettlägrig werde oder gefeuert? Vielleicht mache ich bei der Arbeit Fehler. Wenn ich eine Zahl falsch aufschreibe, könnte das das Leben eines Kunden ruinieren,
und der Papierkram dort ist endlos, und ich muss meine Arbeit ständig noch einmal überprüfen und das Wechselgeld noch einmal nachzählen, und mein Chef beschwert sich, dass ich zu langsam bin, was mich noch mehr unter Druck setzt. Der Psychologe hörte geduldig zu, und plötzlich beschlich ihn beim Zuhören der Gedanke an ein mögliches Zusammentreffen der Sekretärin und der Bankkassiererin auf beiden Seiten des Schalters; flink mit Dollarscheinen hantierend die eine, nervös noch einmal das Wechselgeld nachzählend die andere. Er spielte in Gedanken kurz mit diesem Bild, rückte dann jedoch davon ab, als er eine gewisse Scham verspürte, überantwortete es dem Fluss des Vergessens und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Bankkassiererin zu. »… und außerdem setze ich meine Kinder unter Druck. Sie gehen aus dem Haus, und ich zwinge sie, mich ständig anzurufen, und sie verstehen nicht, was los ist. Und auch mein Mann beschwert sich, dass ich an ihm herumnörgle, und ich mache mir Sorgen, dass er die Geduld mit mir verliert und mich verlässt, und was dann? Ich weiß, was auf mich zukommt.«
»Wo waren wir letzte Woche stehen geblieben?«, fragt der Psychologe seine Vier-Uhr-Klientin.
»Wir sprachen über Gedanken, wie man den richtigen Gedanken kauft, wie ein gutes Paar Schuhe.« Sie streckt ihre langen Beine vor sich aus. »Ich habe mir übrigens ein neues Paar gekauft. Gefallen sie Ihnen?«
»Wir sprachen über Michelle«, sagt er, »über Ihre Reaktion darauf, dass sie sagte, sie liebe ihren Vater mehr.«
»Ja.«
»Wir sagten, es ist wichtig, sich umzusehen, bevor man etwas kauft, und nicht übereilt negative Gedanken zu kaufen.«
»Ja«, sagt sie und starrt auf ihre glänzenden Schuhe.
»Und dann ist da noch etwas«, sagt er, »mir fällt auf, dass Sie solche Gedanken sehr bereitwillig übernehmen.«
»So?« Ihr Blick ruht auf ihm.
»Dadurch sind Sie unfair.«
»Unfair?«
»Sich selbst gegenüber.«
»Wie das?«
»Wenn Michelle morgen sagt, sie liebt Sie, dass Sie die beste Mutter sind, würden Sie das ebenso bereitwillig glauben?«
Sie schüttelt den Kopf. »Ahh, nein, nein, ich würde denken, sie will etwas von mir, oder dass sie es noch nicht richtig weiß.«
»Wie kommt es also, dass Sie sich auf das Negative stürzen und vor dem Positiven zurückscheuen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wir haben eine Regel. Sie können nicht sagen, ich weiß es nicht.«
»Ja, ja, Ihre Regeln.«
»Nun?«
»Ich hasse mich.«
»Das ist ein Schlagwort. Propaganda. Übersetzen Sie das in spezifische Gedanken. Was erzählen Sie sich über sich selbst?«
»Ich bin eine Katastrophe, ich bin wertlos, und ich bin schlecht, dumm.«
»Wer sagt das?«
»Ich sage mir das selbst.«
»Ja, aber Sie wurden nicht so geboren. Sie haben es gelernt. Von wem?«
»Von zu Hause.«
»Von wem zu Hause?«
»Meinem Vater.«
»Erzählen Sie mir von ihm.«
»Was gibt es da zu erzählen? Alkoholiker, er hat mich geschlagen und mit allem geschlafen, was sich bewegte. Ich habe sie nachts immer gehört.«
»Und einem solchen Menschen glauben Sie? Sie kaufen bereitwillig, was ein solcher Mensch zu verkaufen hat? Sie gründen Ihre Selbsteinschätzung auf das Urteil dieses Menschen? Sie gründen Ihre Identität darauf? Ihr Vater hat gelogen. Und wenn er nicht gelogen hat, dann hat er sich geirrt. Sein Verhalten Ihnen gegenüber fällt auf ihn selbst zurück, nicht auf Sie.«
»Ich stamme von ihm ab.«
»Wir alle stammen vom Affen ab. Na und, sitzen wir deshalb auf Bäumen und essen Bananen? Sie stammen von ihm ab, aber Sie sind nicht er, und Sie gehören ihm nicht. Seine Worte haben keine Macht über Ihr heutiges Leben. Als Kind hatten Sie keine Wahl. Sie hatten keine Ahnung. Sie hatten keine Macht, keine Perspektive. Sie mussten ihm glauben. Aber Sie sind kein Kind mehr. Sie wissen einiges. Und Sie wissen, dass Sie nicht schlecht und wertlos sind. Ich weiß es.«
»Wieso, woher wissen Sie
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