Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist
Hilfe brauchst und wenn du das Bedürfnis hast. Wiedersehen.« Und sie legt auf.
Er blättert in der Akte der Vier-Uhr-Klientin. Wie kann er sicher sein, dass sie die Wahrheit sagt? Wie kann er herausfinden, ob ihre Geschichte nicht eine Erfindung ist, bewusst oder unbewusst? Und spielt es eine Rolle? Vor Jahren hat er einen Jungen behandelt, der sich Vlad der Pfähler nannte. Die Mutter des Kindes, eine gedrungene Frau mit kurz geschnittenen Haaren und aufgesprungenen Lippen, erzählte ihm, der Junge habe in der Nachbarschaft Haustiere getötet, sie in seltsamen nächtlichen Ritualen ausbluten lassen und hinten im Garten beerdigt. Der Psychologe bat sie um ihre Einwilligung, zu ihnen nach Hause zu kommen und im Garten zu graben, und tatsächlich, zwischen verrosteten Trucks, Bergen von Autoreifen und einem Kühlschrankwrack fand er eine Anzahl von Katzenskeletten mit ausgerenkten Kiefern, ein paar auf einen Haufen geworfene, gehäutete, kopflose Ratten, ein glückloses Eichhörnchen. Manche Dinge können und sollten verifiziert werden. Und doch kann die Bedeutung der Geschichte eines Menschen nicht als Summe ihrer Fakten ermessen werden. Ein Mensch, der von sich erzählt, beschreibt und konstruiert in diesem Moment seine persönliche innere Architektur, die ihre eigenen Regeln hat, eine der bedeutendsten davon das Fehlen einer klaren Demarkationslinie zwischen dem, was geschehen ist, und dem, was nicht geschehen ist. In diesem inneren
Territorium sind die Lüge und ihre Motive und Prozesse selbst nützliche Wahrheiten.
Und es gibt Dinge, die sich der Erklärung entziehen; schlüpfrige, hoch belastete Aale der Bedeutung: ein Vater, der das eine Kind quält und das andere verwöhnt. Ein Vater, dessen Verhalten, auch wenn es oberflächlich normal erscheint, von einem hochsensiblen Kind als verletzend erlebt wird. Und wir haben keinen Zugang zum Genom der Psyche. Wir können die Gedanken eines Kindes nicht biopsieren, wie wir es mit seiner Haut oder seinen Organen tun würden, um die Geheimnisse seines Denkens zu entschlüsseln. Wäre es doch möglich, emotional verletzte Menschen zu biopsieren und ihr Gewebe zu untersuchen, um zweifelsfrei zu beweisen, dass eine bestimmte Verletzung auf eine bestimmte Person zurückgeführt werden kann! Wäre es doch möglich, eine geologische Analyse des Geistes vorzunehmen, um zu zeigen, dass diese oder jene Verletzung vor exakt fünfundzwanzig Jahren entstand und die andere erst letzte Woche; dass diese Narbe auf eine Beleidigung zurückzuführen ist, jene auf Vernachlässigung! Wäre es doch möglich, ein satellitengestütztes GPS-System zu konstruieren, um eine bestimmte Erinnerung und deren Verlauf durch die Zeit genau nachzuvollziehen, den Ursprung einer bestimmten Anschauung, einer bestimmten Sichtweise zu orten – wäre all das doch möglich … aber das ist es nicht. Bei dem Versuch, die Abgründe des Inneren zu kartografieren, stehen uns lediglich primitive Werkzeuge zur Verfügung – Gespräch, Beobachtung, Empathie. Und selbst mit all unseren Werkzeugen haben wir Glück, wenn wir je auch nur die äußerste Schale durchdringen.
21
D ieses Mal kommt sie früh. Sie sitzt im Wartezimmer und starrt ins Leere. Um vier Uhr führt er sie hinein. Sie setzt sich vor ihn. Ihre Körpersprache, die normalerweise fahrig und locker ist, ist jetzt verschnürt wie ein für eine lange Reise gepackter Koffer. Er fängt ihren Blick auf.
»Ich wollte Ihnen danken«, sagt er.
»Mir danken?«
»Ja. Was Sie letztes Mal getan haben, war verletzend. Sie wissen das bereits. Sie taten etwas, das für Sie und für mich verletzend war und das unsere Arbeit sabotieren und Ihre Fortschritte behindern könnte. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass Ihr Ausbruch in gewisser Weise ein Ausdruck von Vertrauen war. Ich denke, wenn Sie mir nicht vertrauen würden, angemessen damit umzugehen, hätten Sie sich nicht erlaubt, so zu handeln, wie Sie gehandelt haben. Dieses Vertrauen möchte ich als Geschenk entgegennehmen. Und ich hoffe, Ihren Glauben an mich zu rechtfertigen. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um mich dem würdig zu erweisen. Wir können hier kein Liebesverhältnis eingehen. Wir können kein sexuelles Verhältnis eingehen. Aber wir können Vertrauen haben und gegenseitigen Respekt und Akzeptanz und Verständnis. Das können wir haben.«
Tränen.
Schweigen im Sprechzimmer.
Anhaltendes Schweigen.
Beklemmendes Schweigen.
Das Geräusch ihres Atems.
»Ich weiß nicht, was
Weitere Kostenlose Bücher