Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist
menschlichen
Begegnung zu tun, nicht mit einer theoretischen Debatte. Zweitens, wenn Sie warten wollen, bis dieses theoretische Problem gelöst ist, werden Sie ewig warten. Wir können nicht alles wissen. Wir können nur wissen, was zu wissen ist, und wir sind selbst davon weit entfernt, diesen beschränkten Horizont zu ermessen. Auf perfektes Verständnis und Klarheit zu warten, bevor man in den therapeutischen Fluss steigt, bedeutet deshalb in etwa das Gleiche, wie auf die perfekte Frau zu warten, bevor man heiratet – beides zeigt die Angst vor einer echten menschlichen Begegnung. So, Sie sind also ins kalte Wasser gesprungen. Sie sitzen vor Ihrem Klienten. Was nun?«
Er blickt sich um.
Schweigen.
»Das Erste«, sagt er ruhig, »ist Demut. Wenn Sie mit Ihrem Klienten zusammensitzen, sollten Sie sich stets vor Augen halten, dass die psychologische Wissenschaft das Schicksal eines Individuums nicht vorhersagen kann. Wir können das Verhalten von Gruppen vorhersagen. Wir können vorhersagen, dass die Selbstmordrate in einer Gruppe Depressiver höher ausfallen wird als bei Nichtdepressiven. Doch wir können nicht wissen, welche der Depressiven sich umbringen werden. Der Mensch vor Ihnen, sein Schicksal und seine Zukunft, ist nicht auszumachen, und das wird so bleiben, ungeachtet dessen, wie sehr Sie darauf insistieren und sich abrackern. Zweitens, die therapeutische Begegnung ist in ihrem Kern ein Mittel zum Zweck. Ein gemeinsames Wochenende mit Freunden mag für sich genommen etwas Gutes sein, ein Zweck an sich, und muss nirgendwohin führen. Aber eine Therapie ist keine Freundschaft, und die therapeutische Begegnung muss sich vorwärtsbewegen, sie muss irgendwohin führen.«
»Wohin führen?«, fragt das pinkhaarige Mädchen.
»Das müssen Sie vor und während der Behandlung mit dem Klienten aushandeln und klären. Aber ein guter Psychologe achtet in jeder Situation stets auf Bewegung, auf den Wind in den Segeln; wie ein Surfer ist er stets auf der Suche nach der richtigen Welle, um sich ihre Kraft zunutze zu machen. Der singuläre Zweck eines jeden Gedankens, einer jeden Äußerung, einer jeden Geste, die Sie im Rahmen der Therapie hervorbringen, dient dazu, den Klienten voranzubringen: dem Klienten zuzuhören, den Klienten zu verstehen, ihm für seine Nachforschungen einen sicheren Raum zur Verfügung zu stellen, Ihr Wissen über die Architektur des Inneren mit ihm zu teilen, ihn in den richtigen Gebrauch der psychologischen Werkzeuge einzuweisen. Sämtliche Materialien der therapeutischen Begegnung, all ihre Ausdrucksformen und Gesten, existieren nur für diesen einen legitimen Zweck: ihre Rolle im Heilungsprozess des Klienten wahrzunehmen. Aus diesem Grund darf ich, wenn der Klient zu mir sagt, Sie sind ein Dummkopf, ein gleichgültiges Arschloch, das keine Ahnung hat, mich nicht beleidigt fühlen, ihn nicht ebenfalls beschimpfen oder ihn eines angenehmeren Menschen wegen im Stich lassen. All das eben Genannte sind legitime Reaktionen gegenüber Freunden, Geliebten, Verwandten oder Fremden, nicht aber gegenüber Klienten. Meine höchste Verpflichtung im Rahmen der therapeutischen Begegnung liegt darin herauszufinden, woher diese Gefühle kamen, wie sie mir dabei helfen können, den Klienten besser zu verstehen, und wie ich sie als therpeutischen Hebel für den Heilungsprozess des Klienten nutzen kann.«
»Also ich persönlich, wenn jemand Scheiße zu mir sagt, dann knalle ich ihm eine«, sagt Eric, »Klient oder nicht.«
Dem pinkhaarigen Mädchen läuft ein beinahe unmerklicher Schauder über den Rücken. Sie streicht sich über den Nacken.
»Vielleicht«, sagt der Psychologe, »doch in diesem Fall ist Ihre Begegnung keine therapeutische und nicht wirklich von Demut geprägt.«
»Manchmal ist ein kleiner Schlag gegen den Kopf eine sehr wirkungsvolle Therapie«, murmelt Eric, »meiner demütigen persönlichen Meinung nach selbstverständlich.«
Der Psychologe lächelt. »Ungeachtet Erics bahn- und sonstwas brechender Methode entscheiden wir uns derzeit dafür, der Klientin demütig und zielbewusst gegenüberzutreten, zu versuchen, ihre Geschichte zu verstehen. Trotzdem sollten wir an dieser Stelle wachsam sein, da die Klientin immer mit ihrem Alibi beginnen wird, nicht mit ihrer Geschichte, auch wenn ihre Anwesenheit in Ihrem Sprechzimmer Bände spricht, dass ihr Alibi nicht funktioniert hat. Wir tun, was wir kennen. Und die Menschen kennen ihr Alibi weit besser als ihre Geschichte, da das Alibi Tag
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