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Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Titel: Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noam Shpancer
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stellen.«
    Nathan nickt langsam.
    »Wenn Sie von diesem Punkt ausgehen, ist möglicherweise jede Entscheidung richtig.«
    Der Junge nickt wieder, sein Gesicht wird weicher.
    »Danke«, sagt er. »Und wenn Sie erlauben, es ist mir wichtig, das zu sagen, auch wenn Sie kein gläubiger Mensch sind, ich weiß aber, der göttliche Funke wirkt auch in Ihnen. Und Seine Liebe, Sein Weg steht auch Ihnen offen.«
    Der Psychologe lächelt: »Vielleicht«, sagt er, »vielleicht ist meine Zeit gekommen und vergangen. Und jetzt ist es spät und an der Zeit, nach Hause zu gehen. Gute Nacht also, wir sehen uns nächste Woche.«

25
    A m nächsten Morgen, als er auf dem Weg zur Arbeit durch seine Straße fährt, erhascht er einen flüchtigen Blick auf ein altes, schäbiges Klavier, das bei einem Nachbarn auf dem Rasen steht. Ein Zettel klebt daran: Kostenlos in gute Hände abzugeben. Der Psychologe hält augenblicklich an, steigt aus und geht zu dem gewaltigen Instrument hinüber, umrundet es, streicht mit der Hand darüber. Ungeachtet seines bedrohlichen Umfangs und der düsteren Farbe erscheint ihm das Klavier auf dem Rasen plötzlich wie ein im Stich gelassenes, verlorenes Kind. Seine Gegenwart hier an dieser Stelle kommt ihm wie ein schrecklicher Fehler vor, oder, vielleicht im Gegenteil, wie eine großartige und überraschende Gelegenheit. Unvermittelt steigt ein mächtiger, unerklärlicher Drang in ihm auf. Er klopft bei den Nachbarn an die Tür, und ein junger Mann, halbnackt, schlafzerzaust, späht heraus und reibt sich die Augen.
    »Ihr Klavier?«, fragt der Psychologe.
    Der Mann nickt. »Wir ziehen um. Ich habe einen Job in Seattle bekommen. Es gehört der Mutter meiner Frau. Wir spielen nicht Klavier. Sie ist in ein Altenheim gezogen, deshalb haben wir es genommen. Es muss hundert Jahre alt sein.«
    Kratzer und Risse sind in den alten Klavierkorpus eingefräst. Es sieht aus wie ein Denkmal für etwas, eine verblichene Schönheit, ein unerfülltes Versprechen. Wieder siehst du um dich herum Metaphern, denkt der Psychologe bei sich; aber dieses Klavier ist eine zu konkrete Präsenz, wie es so dasteht,
düster, standhaft und still wie ein abgestorbener Baum; und trotz seines Zerfalls geht immer noch ein Leuchten von ihm aus, eine Ganzheit.
    »Helfen Sie mir, es zu meiner Wohnung zu schieben?«, fragt der Psychologe. »Ich zahle Ihnen zwanzig Dollar.«
    Sie ziehen und zerren an dem massiven Instrument; die Räder darunter quietschen und ächzen, streifen eine dicke, uralte Rostschicht ab. Schritt für Schritt wuchten sie es schwer atmend über die Straße und den asphaltierten Gehweg und die beiden Stufen hinauf, die zur Haustür des Psychologen führen. Der Nachbar seufzt und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Der Psychologe wird von einem seltsamen Übermut gepackt; er fühlt sich wie ein Kind, trunken. Sie schuften gewaltig, um den hallenden Berg aus Holz und Eisen durch den schmalen Eingang zu bugsieren. Eines der Räder gibt plötzlich den Geist auf, fällt ab und kratzt protestierend über den Holzfußboden, wo es eine hässliche Narbe hinterlässt. Doch der Psychologe schenkt dem keine Beachtung. Dieses Klavier, so schwer es zu bewegen ist, kommt ihm nicht störrisch vor, sondern eher bewusstlos, in Ohnmacht gefallen. Noch ein Drücken und noch ein Stemmen, und das Klavier steht an der Wohnzimmerwand, ein wenig nach rechts geneigt, und sein massiver Korpus gebietet über die Enge des kleinen Zimmers. Der Psychologe bietet dem Nachbarn Geld an. Der Nachbar lehnt ab und geht. Der Psychologe sitzt in seinem Sessel und nimmt seinen Schatz in Augenschein. Das Klavier, das wird nun deutlich sichtbar, ist zu groß für das Zimmer, strahlt aber Gelassenheit und Wohlwollen aus. Der Psychologe steht auf und tritt an das riesige Ding. Er hebt den verstaubten, fleckigen Deckel und schlägt die vergilbten Tasten an. Klavierstimmer suchen, kritzelt er auf seinen kleinen Notizblock.

    »Ich habe jetzt ein Klavier«, erzählt er Nina ein paar Tage später in seinem Büro, die Beine auf den Schreibtisch gelegt.
    »Du hast dir ein Klavier gekauft?«
    »Ich habe ein Klavier gefunden.«
    »Gefunden?«
    »Ein Nachbar hatte beschlossen, es loszuwerden. Ich fuhr die Straße entlang und entdeckte es auf dem Rasen. Irgendetwas ist passiert. Ich konnte dieses Klavier dort nicht so allein stehen lassen. Es war ein Gefühl, als ließe ich ein Baby auf der Straße liegen. Ich musste es adoptieren.«
    »Warum adoptierst du nicht einen

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