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Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Titel: Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noam Shpancer
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sagt er zu der verstreut vor ihm sitzenden Gruppe von Studenten und stellt fest, dass Jennifers Stuhl schon wieder leer ist. »Denken Sie an die Lehren von Paul Meehl, diesem versierten Initiator: Anekdoten und Intuition, treue Freunde des mythologischen Psychologen, sind die Feinde eines guten Psychologen. Als bezaubernde, wenn auch verräterische Sirenen dürfen sie weder unsere tägliche, systematische Suche nach Beweisen ersetzen noch die uns bekannten Gesetze des Universums verdrängen. Die Gesetze der Schwerkraft und der Wahrscheinlichkeit gelten für uns alle gleichermaßen. Und von daher bedeutet Ihre Fähigkeit, sich mühelos an ein bestimmtes Ereignis zu erinnern, nicht, dass dieses Ereignis gewöhnlich oder bedeutend ist. Und selbst wenn das Lebewesen im Gebüsch watschelt und aussieht und Laute von sich gibt wie eine Ente, tun Sie gut daran herauszufinden, ob es sich bei dieser Umgebung tatsächlich um einen glaubhaften Lebensraum für Enten handelt, ehe Sie das Lebewesen zur Ente erklären. Und die Tatsache, dass einer Ihrer entfernten Cousins mütterlicherseits bis zum Alter von sechzehn Jahren Bettnässer war und heute ein eigenbrötlerischer Kauz ist, etabliert das Bettnässen nicht als allgemeingültige Ursache für Verschrobenheit und Isolation. Die Tatsache, dass alle Ihre Klienten über ihre schmerzliche, chaotische Kindheit sprechen, liefert keinen Beweis dafür, dass jeder, der als Kind leidet, als Erwachsener dem
Untergang geweiht ist. Diejenigen, die die Härten ihrer Kindheit auf eigene Faust überwunden haben – und diese bilden die überwältigende Mehrheit –, tauchen schließlich nicht in Ihrer Praxis auf. Die Tatsache, dass die meisten Gefängnisinsassen Kriminelle sind, heißt nicht, dass die meisten Kriminellen im Gefängnis sitzen. Auch hier kam der alte Wiener ins Straucheln, als er sich bemühte, angelernte Schrullen aufzuzeigen, und es verpasste, die angeborenen Neigungen des Gehirns zu identifizieren; er bastelte an der Software und vergaß die Hardware. In diesem Kontext muss unsere Begegnung mit dem Klienten eine wissenschaftliche Untersuchung sein, anhand derer wir Hypothesen aufzustellen und zu überprüfen versuchen, die die Verknotungen des Klienten betreffen und die richtige Art und Weise, sie zu lösen.
    Gleichzeitig sollten Sie Paul Meehl vergessen«, sagt er. »Ihre Begegnung mit dem Klienten ist ein einmaliges Ereignis, einem Kunstwerk ähnlich. Die Geschichte des Klienten, an allgemeine Gesetzlichkeiten gebunden und darin verankert, stellt immer eine einzigartige, konkrete Erfahrung dar. Auch bei denen, die denselben Weg gehen, unterscheiden sich Tempo und Schrittlänge, ihre Gedanken und ihre Blickrichtung sind verschieden. Ein Mann geht am Strand entlang wie Tausende vor ihm, aber seine Fußspuren – deren Abdruck und Tiefe und Umriss – sind einzigartig. Selbst eineiige Zwillinge haben immer unterschiedliche Gedanken und können physisch nicht ein und denselben Platz besetzen. Die Sprache der Gesetze und Verallgemeinerungen vermag es nicht, den gesamten Schatz menschlicher Erfahrung zu bergen. Eine durchschnittliche Mutter hat 2 ,2 Kinder, doch Sie werden keiner einzigen, realen Mutter mit 2 ,2 Kindern begegnen. Es ist wichtig zu wissen, wie viele Millionen Menschen in einem bestimmten Krieg oder bei einer bestimmten Gräueltat gestorben sind, doch ein solches Wissen
treibt niemandem Tränen in die Augen. Die persönliche Geschichte eines einzelnen Todesfalls tut das sehr wohl. Ein guter Psychologe muss an dieser Stelle präsent sein und dem Klienten von Mensch zu Mensch gegenübertreten, nicht wie der anderen Seite einer abstrakten Gleichung, und muss mit seiner Anwesenheit helfen, die zerbrochene Geschichte des Klienten, seine Identität, aufzusammeln und neu zusammenzusetzen: Sie werden gehört. Ihre Stimme hat ein Echo. Sie existieren. Sie sind ein Mensch; ein Mensch auf dieser Welt.«
    Die Tür geht auf und Jennifer kommt herein, ohne ihn anzusehen. Sie lässt den Kopf hängen. Sie setzt sich auf ihren Stuhl; ihr Gesicht ist blass und verschlossen.
    »Und stellen Sie das Geplapper ab«, sagt der Psychologe, und sein Blick gleitet über sie hinweg, ohne an ihr hängen zu bleiben: »Alles, was gesagt werden kann, kann klar gesagt werden, meinte Wittgenstein, und mit diesem Kerl wollen Sie keinen Streit anfangen, fragen Sie nur Karl Popper, der 1946 in Cambridge beinahe einen Schürhaken an den Kopf bekam. Alles, was gesagt werden kann, kann klar gesagt

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