Der gute Stalin
furchtbaren Schüchternheit) verdorbene Rede, und plötzlich erklärte die Direktorin vor der ganzen Schule, ich sei ein Faschist.
Faschist! Ich, der ich ein hervorragender Schüler war, Englisch in Sprachkursen des Außenministeriums lernte, mich in Geschichte auskannte, der Erste war in Literatur, mir korrektes Schreiben aneignete, indem ich in den Ferien nach der achten Klasse Rosentals Russisch-Lehrbuch auswendig lernte, so toll für die Schülerwandzeitung schrieb, dass die Lehrer glaubten, ich würde aus der Zeitschrift Amerika abschreiben – ich, ein Faschist? Ich schwärmte für Modigliani, van Gogh, den frühen Majakowski. Ich stahl aus der Schulbibliothek Hefte der Zeitschrift Junost , in denen Axjonows Roman Fahrkarte zu den Sternen abgedruckt war – aus purer Begeisterung. Ich flog, die Welt zu verbessern, mit mir flogen in einer Fliegerstaffel die »Sechziger«-Dichter, die ganze Stadien erobert hatten, und plötzlich – Faschist.
In Wirklichkeit war ich kein Faschist, sondern Moralist, und mein erster Protest, den ich durchlebte, war ein moralischer Protest. In den letzten Schuljahren dachte ich in den moralischen Kategorien von Gerechtigkeit und Sieg des Guten. Ich stand der russischen Literatur nahe. Ich liebte die Chemie, da ich darin die Alchimie fand. Ich experimentierte zu Hause. Irgendetwas phosphoreszierte heftig in einem Reagenzglas aus meinem kleinen Übungslabor »Der junge Chemiker«. Meine Eltern wunderten sich, die Lippen verständnisvoll zusammengepresst, doch sie fürchteten um die rosa gestrichenen Wände mit dem aufgerollten silbrigen Weintraubenmuster in meinem Zimmer, wie von alten Malern aus dem Silbernen Zeitalter ausgeliehen. Die junge Chemielehrerin mochte mich. Ich suchte in der Chemie das Elixier der Güte. Leidenschaftlich entlarvte ich Betrug, wo ich konnte. Die ganze Welt lügt – ich entlarvte die Welt. Mama log, Papa log, die Klassenlehrerin Zilja Samoilowna log, meine Mitschüler logen, die Fernsehsprecher logen, die Zeitungen, die Partei und die Regierung. Einzig mein geliebtes Frankreich log nicht. Und Dostojewski log auch nicht. Ich bekam keine Luft mehr vor Lügen. Ich log ebenfalls, aber ich log inspiriert, die Welt hingegen log gemein, böse, todbringend. Wie Belinski, der jeden Tag zum Nikolai-Bahnhof kam, um nachzusehen, wie der Bau der Eisenbahn voranging, die Petersburg und Moskau verbinden sollte, glaubte ich an die progressive Entwicklung der Zivilisation: Ich freute mich über jedes neue Schaufenster, über die ersten Schaufensterpuppen, die weiß der Teufel woher kamen, im Geschäft »Kleidung« auf dem Puschkin-Platz, über den Bau des »modernistischen« Hotels »Minsk«, das mich damals vage an die Existenz eines Le Corbusier erinnerte, über die sich in Moskau vergrößernde Zahl der Privatautos, von denen sich zu der Zeit höchstens drei vor einer Ampel ansammelten. Ich träumte von Staus, von Cafés und Cocktails. Ich weiß nicht, warum, aber ich glaubte ganz fest an die Menschen, das Böse hielt ich für nicht mehr als eine korrigierbare Abweichung, und wenn ich diese Position beibehalten hätte, würde ich einen sicheren Platz in der russischen Literatur gefunden, das Böse gerodet, mich unter die »Sechziger« gemischt haben, wäre deren kleiner Bruder geworden, und so schlecht es mir weiterhin auch gegangen wäre, ich hätte dazugehört – für immer. Ein feiner Kerl. Menschen, ich habe euch geliebt.
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Es ist Zeit, wenigstens etwas Grundsätzliches zu sagen. Ich bin ohnehin schon spät dran mit einem Fazit zu meiner Kindheit. Also, bevor ich mein Studium an der Universität beginne, lege ich mir meine erste feste Vagina zu und verliebe mich schließlich. Sprechen wir also von Geheimnissen.
Meine Fantasien fielen auseinander in Reise- und Spielfantasien, die ich tagsüber hatte, und in solche, die nachts zu mir kamen und mit Ängsten verbunden waren. Das führte dann zu schöpferischer Schizophrenie, zu meiner Spaltung in Tag und Nacht, in Verstandeskategorien und Wahngestalten. Kindliche Ängste ergossen sich aus Mangel an Glauben aufs Papier, und das war die rettende Entleerung, die nicht nach Mitleid oder Unterstützung verlangte, das war Befreiung.
Nichtsdestoweniger beschränkte sich die Angelegenheit nicht darauf, ebenso wenig wie – in der Folge – auf meinen Vatermord. Es gab noch ein tieferes, dauerhafteres Geheimnis, das mit der Umleitung von Energie zu tun hatte. Sowohl der Vatermord als auch die Befreiung von Phobien
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