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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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Machthabern ganz nahe standen. Sie wechselten sozusagen aus der Business-Class in die Erste Klasse. Es gab auch noch exquisitere Orte wie das Sanatorium »Barwicha« – dort erholten sich Trojanowski, Dubinin und Alexandrow –, aber so hoch waren meine Eltern noch nicht geflogen (und meinetwegen schafften sie es auch nicht mehr). Aber in »Sosny« bei Nikolina Gora war der Kommunismus ebenfalls schon aufgebaut. Das konstruktivistische, schiffsähnliche Gebäude hatte bereits im Bestimmungshafen angelegt. In seinen geräumigen Kajüten mit Balkon roch es nach Sorglosigkeit – kriminellerweise liebte ich diesen Ort vollkommen unabhängig von Staatsmacht, Partei, der sowjetischen Wirklichkeit und den Kurgästen. Am anderen Ende des stark bewachten Parks stand eine verfallene Kirche im Barockstil, wie er für die Gegend um Moskau typisch ist, mit Weinblättern in Stein – auch die liebte ich. Alles dort war mir lieb.
    Ich nahm Vaters Fahrrad und fuhr auf den entfernteren Wegen. Ein riesiger Park mit Pilzen, an die noch keiner herangekommen war. Dort gab es ein solches Lebensgefälle, dass niemand hinter den Zaun gelassen werden durfte. In »Sosny« vergaß ich, dass mir mein Vater fremd vorkam. Eigentlich war seine Fremdheit ausgewogen, nuanciert. Seine Freunde hassten Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch ; bei uns zu Hause am Mittagstisch, zwischen den Gängen »Marlboro« rauchend, sprachen sie mit herrschaftlichen Stimmen – ich höre vor allem die Stimme von Oleg Alexandrowitsch Trojanowski, einem echten, gut aussehenden Herrn der sowjetischen Diplomatie, Botschafter in Japan und China, Sohn eines Kampfgenossen von Lenin, mit Datscha in Shukowka, Veranda, einem riesigen Transistorradio der Firma »Zenit«, aus dem ausschließlich das perfekte Englisch der BBC -Sprecher zu hören ist; mein Papa hat es zu so einem schönen, hochherrschaftlichen Leben nicht gebracht – über Solshenizyn als antisowjetischen Autor zu einem Zeitpunkt, als er mit dieser Erzählung noch für den Lenin-Preis nominiert war, sie diskutierten hitzig, schäumten vor Empörung. Vater verurteilte ihn in meiner oder Mamas Anwesenheit nicht ein einziges Mal. Er hörte den Freunden zu, gab aber keine Urteile ab. Wahrscheinlich hatte er den Iwan Denissowitsch gar nicht gelesen. An der inneren Front schwieg er sich aus. Und dieses Schweigen war Gold. In meinem Zimmer stand auf der Fensterbank eine kleine Solshenizyn-Büste aus gebranntem Ton von Silis und Lemport: ein Fuß aus Büchern und ein wenig Stacheldraht. Die Büste war vor missgünstigen Blicken ein wenig hinter der Gardine versteckt, und meine Eltern kämpften mal träge, mal energisch gegen sie an, bis sich eine Lösung fand.
    »Schlimmstenfalls ist das Beethoven«, sagte Mama.
    Auf diese Weise wurde Solshenizyn bei uns zu Hause zu Beethoven. Auf dem Balkon in »Sosny« lag Mama im blau-weißen Liegestuhl, blätterte in dicken Heftern vorrevolutionärer Zeitschriften wie Niwa und las Papa und mir mit einem fröhlichen Lächeln, das eine rührende horizontale Falte über der Oberlippe produzierte, Reklame und ärztliche Aufrufe zum Kampf gegen Hämorrhoiden vor; Papa spielte selbstvergessen Tennis, auch in diesem Punkt wurde er ein Verbündeter in meinem Leben. Wenn es draußen regnete und nach Tannennadeln roch, die in den Pfützen schwammen, sagte er, dass bald die Sonne herauskäme, und nahm mich mit zum Tischtennis oder Billard oder auch zum überdachten Tennisplatz mit Holzboden und sehr kurzem Vorlauf. Bei Papa entwickelten sich leicht playboyhafte Züge. Er begann sich auffällige teure Pullover von bekannten ausländischen Firmen zu kaufen.
    Nach dem Regen bildeten sich sommerliche Dunstschwaden. Ich trat in die Pedale, flog durch den Naturschutzpark. Ein Zeitgenosse des Gulag, ein älterer Wächter, sprang hinter einem Busch hervor und hielt mein Fahrrad am Lenker fest. Beinahe wäre ich gestürzt. Er hatte einen so wütenden Gesichtsausdruck, als wollte er mich erschießen. Er dachte, ich käme aus der einfachen Welt. Doch auch bei mir kochte die Wut hoch. Das war die Wut des Botschaftersohns. Ich war im Recht. Ich bellte ihn an:
    »Was soll das, kannst du nicht sehen?«
    Er war ein Dreiviertelleben älter als ich.
    »Was sehe ich nicht?«
    Er hatte keinen Widerstand erwartet.
    »Die Marke!«
    Ich zeigte auf die staatliche Registriermarke, die an den Speichen des Vorderrads befestigt war. Wir waren zwei erstaunliche Lumpen. Er begriff, dass er einen Bock geschossen hatte.

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